Kriminalität

Tragische Verwechslung?

Das Horber Amtsgericht versucht zu klären, warum ein Dettinger brutal zusammengeschlagen wurde. Die Ermittlungen führen ins Rockermilieu.

19.10.2016

Von Dagmar Stepper

Die Tat ereignete sich in Dettingen. Das Opfer schleppte sich nach den Schlägen nach draußen. Archivbild: bbm

Die Tat ereignete sich in Dettingen. Das Opfer schleppte sich nach den Schlägen nach draußen. Archivbild: bbm

Am 5. November 2014 klingelt es nachmittags um 14.15 Uhr an einer Tür in Dettingen. Der 48-jähriger Bewohner geht arglos an die Haustür. Er kommt gerade von der Arbeit zurück, hat sich einen Kaffee gemacht, eine Zigarette geraucht. Dieser Tag sollte sein Leben von Grund auf ändern: Die Tür geht auf, zwei Männer dringen in den Hausflur ein. Der eine zückt eine Stahlrute, der andere ist mit einem Radmutterschlüssel bewaffnet. Die beiden schlagen auf den Mann ein. Er geht zu Boden, sie treten nach. Er schreit um Hilfe, ein Hund in der Nachbarschaft beginnt wild zu bellen. Die beiden Schläger lassen von ihrem Opfer ab und verschwinden mit einem schwarzen Kleinwagen. Der 48-Jährige schleppt sich nach draußen, ist blutüberströmt. Er hat Verletzungen im Gesicht, eine Quetschung am Gehirn, an vielen Körperstellen Prellungen und Hämatome. Kurz darauf treffen Polizei und der Notarzt ein. Ein Nachbar hat sie alarmiert. Das Opfer kommt in die Notaufnahme. Die Verletzungen erweisen sich nicht als lebensgefährlich. Zwei Tage später verlässt er wieder das Krankenhaus. Doch sein Leben ist seither zerstört.

Opfer sagt nicht aus

Gestern begann im Amtsgericht Horb der Prozess gegen zwei Angeklagte. Sie werden verdächtigt, die Tat am 5. November 2014 begangen zu haben. Es ist kein normaler Gerichtstermin, denn die beiden Angeklagten gehören dem Rockermilieu an. Sie sind Mitglieder der „Hells Angels“. Daher gibt es einen Sicherheitsdienst, der die Besucher und die Angeklagten checkt. Die beiden lassen gleich zu Beginn der Verhandlung durch ihre Anwälte mitteilen, dass sie an diesem Verhandlungstag von ihrer Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen. Sie werden an diesem Tag schweigen. Die Staatsanwältin verliest die Anklage. Sie lautet auf gefährliche Körperverletzung. Als die Kriminalpolizei den Fall im November 2014 untersuchte, ging sie anfangs von einem versuchten Tötungsdelikt aus. „Doch die konkrete Todesgefahr konnte nicht begründet werden“, sagt die Staatsanwältin. Das bestätigt der medizinische Sachverständige Prof. Frank Wehner, der das Opfer kurz nach der Tat untersucht hat: „Es gibt im Bereich des Schädels keine Fraktur, keine Blutung, keine Verletzung des Gehirns“, informiert er. Er sagt aber auch: „Die Schläge wurden mit einer derartigen Wucht ausgeführt, dass eine tödliche Verletzung auch möglich gewesen wäre.“

Gestern versuchte das Schöffengericht unter dem Vorsitz von Richter Dirk Trick, sich einen Überblick über die Tat zu verschaffen und vor allem die Motive zu erkunden. Dazu waren 15 Zeugen geladen. Etliche Polizisten waren darunter, aber auch Nachbarn und die Freundin des Opfers. Der Ermittlungsführer der Kripo Rottweil hatte mehrmals mit dem Opfer gesprochen. Der heute 50-Jährige erschien nicht bei Gericht. Er hatte ein Attest eingereicht. Er ist auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Seit dem Übefall war er nicht mehr bei der Arbeit, ist in psychologischer Behandlung und leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Daher dienten die Vernehmungsprotokolle als Grundlage für die Opferseite. Am 24. November 2014 hatte er knapp drei Wochen nach der Tat ausgesagt: „Probleme mit körperlichen Schmerzen habe ich keine. Es ist die Psyche. Ich fühle mich Zuhause nicht mehr wohl.“

Parallelen zu einer Schlägerei

Zu den Tätern konnte er kaum Auskunft geben. Es gibt keine genaue Beschreibung. Doch vor allem belastet das Opfer, dass er sich das Ganze nicht erklären könne. Gleich zu Beginn hatte die Kripo im Rockermilieu ermittelt. Denn der inzwischen 50-Jährige war ein „Supporter“ des Motorradclubs „Outlaws“, die der Rockerszene zugrechnet werden. Er besaß auch eine Jacke mit Emblem, ein Foto damit hat er auf Facebook gepostet. Das Opfer betonte mehrmals: „Ich bin kein Mitglied einer Rockergang.“ Das wurde auch vor Gericht von der Polizei bestätigt. Die Kripo zog aber Parallelen zu einer Schlägerei, die sich am 31. Oktober in Horb zugetragen hatte – also wenige Tage vor dem Überfall in Dettingen. An diesem Abend kamen zwei Mitglieder der „Hells Angels“ aus Reutlingen nach Horb ins „Bistro“, die Stammkneipe der „Outlaws“. Es kam zu einer Schlägerei in der Kneipe, die zwei „Hells Angels“-Mitglieder wurden von zehn „Outlaws“ attackiert. Ein paar Stunden später rückten 30 bis 40 „Hells Angels“-Mitglieder aus Reutlingen in Horb an. „Daher gingen wir zuerst von einem Racheakt aus“, informierte der Polizist, „der ließ sich aber nicht belegen.“ Das deckt sich mit den Aussagen des Opfers: „Ich hatte noch nie Probleme mit den ‚Hells Angels‘.“

Auf die beiden Angeklagten kam die Polizei bei ihren Ermittlungen vor allem über das Fluchtfahrzeug. Drei Zeugen identifizierten einen dunklen Nissan Micra mit Heilbronner Kennzeichen. Dieses Auto fanden die Ermittler, am Steuer saß die Lebensgefährtin des einen Angeklagten. Der 30-Jährige ist Mitglied der „Hells Angels“. Im Auto wurden Blutspuren am Handschuhfach und auf der Fußmatte im Beifahrerraum gefunden. Dafür fehlte der Radmutterschlüssel. Doch wem die Blutspuren gehören, das wurde gestern bei Gericht nicht gesagt.

Fortsetzung am Donnerstag

Die Polizei nahm auch den 24-jährigen Kumpel des 30-Jährigen fest, der ebenfalls den Hells-Angels zugerechnet wird. Dieser stammt aus Reutlingen. Dort haben sich die beiden auch am Tag vor der Tat getroffen. Der 30-Jährige ließ sich zudem am 4. November für den Rest der Woche krankschreiben. Daher geht die Polizei davon aus, dass das Paar am 5. November gemeinsam nach Dettingen gefahren ist und den Überfall verübten. Doch über die Motive tappen auch sie im Dunkeln. War es also eine tragische Verwechslung?

Mit dieser Frage wird sich das Gericht am zweiten Verhandlungstag am Donnerstag beschäftigen: Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen, das Parkett gehört dann der Staatsanwältin und den Rechtsanwälten. Und natürlich dem Schöffengericht mit Richter Trick.