Mehr Arbeit für die Ankläger

Tübinger Staatsanwaltschaft: Fast 50000 Verfahren im Jahr 2015 / Weniger Schwerverbrechen

Die Arbeitsbelastung ist bei der Tübinger Staatsanwaltschaft anhaltend hoch: 2015 bearbeitete die Behörde in der Charlottenstraße 49809 Verfahren, ein neuer Höchstwert. Bei nahezu allen Delikten nahmen die Fallzahlen zu. Mit zwei Ausnahmen: Bei Steuerstrafverfahren und Schwerstkriminalität haben sie sich mehr als halbiert.

07.04.2016

Von Jonas Bleeser

Ein besonders aufwändiges Verfahren für die Staatsanwaltschaft Tübingen ist das wegen vermuteter Verstöße gegen das Tierschutzgesetz bei den Affenversuchen am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik. Endgültige Ergebnisse sollen frühestens in einem halben Jahr vorliegen. Bild: Soko Tierschutz

Ein besonders aufwändiges Verfahren für die Staatsanwaltschaft Tübingen ist das wegen vermuteter Verstöße gegen das Tierschutzgesetz bei den Affenversuchen am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik. Endgültige Ergebnisse sollen frühestens in einem halben Jahr vorliegen. Bild: Soko Tierschutz

Tübingen. Der allergrößte Teil der Arbeit der Tübinger Ankläger wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Bekannt werden hauptsächlich die aufsehenerregenden Fälle, meist die, bei denen es um hohe Schadenssummen oder schwere Gewalt geht. Die gab es vergangenes Jahr auch im Zuständigkeitsbereich der Tübinger Behörde, der von Dettenhausen im Norden bis Trochtelfingen im Süden, von Bad Herrenalb im Westen bis Zwiefalten im Osten reicht.

Bundesweit sorgte vor allem der Prozess gegen vier junge Männer aus dem Steinlachtal für Aufsehen, die nahe einer Party in der Tübinger Hermann-Hepper-Halle eine junge Frau vergewaltigt hatten. Sie wurden vergangenen Dezember zu Haftstrafen zwischen sechs und siebeneinhalb Jahren verurteilt. Ein weiteres spektakuläres Verfahren aus dem vergangenen Jahr wird derzeit am Landgericht verhandelt: Ein psychisch verwirrter Mann hatte am Uniklinikum einem Polizisten die Waffe entrissen und damit auf dessen Kollegin gefeuert. Die Staatsanwaltschaft will ihn nun im Sicherungsverfahren in der Psychatrie untergebracht wissen.

Solche Kaptaldelikte landeten im vergangenen Jahr nur zwölf Mal auf den Schreibtisch der Tübinger Staatsanwälte. So wenige Fälle von Schwerstkriminalität gab es in den vergangenen zehn Jahren nie (2014: 29 Fälle): „Das ist ein absoluter Tiefstwert“, sagte Staatsanwaltschaftssprecherin Tatjana Grgic beim Jahrespressegespräch. Allerdings stieg die Zahl aller übrigen Delikte an: Einzige Ausnahme sind die Steuerstraftaten, die von 74 auf 35 Fälle zurückgingen. Die Staatsanwaltschaft Tübingen liegt bei den Verfahren, bei denen die Beschuldigten bekannt sind (21689), etwas unter der landesweiten Zunahme von 5,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Grgic verzeichnete mit 4194 Fällen weniger Jugendstrafsachen (2014: 4352) – wohl aber nicht, weil die Jugend weniger kriminell ist, sondern weil es weniger junge Leute gibt.

Bei den Körperverletzungen kletterte die Statistik um 101 auf 2171 Verfahren. Spitzenwerte erreichten auch Betrug und Untreue (von 4050 auf 4144 Fälle) und Geldwäscheverfahren (293 statt 239 Fälle). Dafür machte Grgic vor allem die grassierenden Fälle von Betrug übers Internet verantwortlich: Immer wieder würden beispielsweise Waren bei Ebay zwar bezahlt, dann aber nicht geliefert. Häufig bekommen arglose oder naive Helfershelfer der Online-Betrüger dann eine Anzeige wegen Geldwäsche, weil sie deren ergaunerte Bestellungen ins Ausland weiterschicken oder ihr Konto gegen Provision für dubiose Geldtransfers zur Verfügung stellen.

Die deutliche Zunahme an Drogenfällen (2015: 2088) führt die Anklagebehörde auf die verstärkte Ermittlungsarbeit zurück: Seit der Polizeireform ermittelt die Rauschgiftermittlungsgruppe des Reutlinger Präsidiums sehr erfolgreich in der Szene. Die Verfolgung von Kinderpornografie blieb mit 65 Fällen (2014: 59) weiter in einem vergleichbar niedrigen Bereich. Das liege daran, dass das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung zwar 2015 verabschiedet wurde, die Ermittler aber wegen Übergangsfristen bis Mitte des Jahres erst von diesem Sommer an auf die für die Verfolgung benötigten Daten zugreifen könnten.

Als besonders arbeitsintensiv entwickelte sich im vergangenen Jahr das Verfahren zu den Affenversuchen am Tübinger Max-Planck-Institut. Um herauszufinden, ob bei gegen das Tierschutzgesetz verstoßen wurde, sichteten die Ermittler große Datenmengen. Nur so könne die Behandlung der Primaten detailliert nachvollzogen werden. Der polizeiliche Abschlussbericht liegt vor, nun soll ein Primaten-Sachverständiger die Ergebnisse prüfen. Das könne sich aber noch mindestens ein halbes Jahr hinziehen, erklärte Oberstaatsanwalt Marin Klose.

Insgesamt 23 Mal ging die Behörde 2015 wegen volksverhetzender Kommentare im Internet, beispielsweise auf Facebook, gegen deren Urheber vor. Einige erhielten Strafbefehle zwischen 30 und 90 Tagessätzen. Der neue Leiter der Tübinger Staatsanwaltschaft Michael Pfohl bearbeitete bei seiner früheren Dienststelle in Hechingen etliche solcher Fälle: „Was man zu sehen bekommt, ist erschreckend.“ Wer entsprechende Hetzkommentare anzeigen will, beispielsweise über das Online-Hinweissystem der Polizei, solle am besten gleich einen Screenshot machen und mitschicken: „Dann ist das dokumentiert.“

Arbeitsbelastung: Zu viele Fälle für zu wenige Ankläger

49809 Vorgänge in einem Jahr – „Das ist eine höchstproblematische Zahl, das ist nicht lange durchzuhalten“, kommentierte Oberstaatsanwalt Michael Pfohl das gewaltige Arbeitsaufkommen, der seit dem 1. April die Tübinger Staatsanwaltschaft leitet. Zwar wurden die allermeisten Verfahren eingestellt (72 Prozent) – wegen erwiesener Unschuld, Verjährung, weil es Bagatellfälle waren oder kein Beschuldigter ermittelt werden konnte. Doch nach einem intern in der Justiz errechneten Schlüssel, der den Personalbedarf für die anfallende Arbeit ermittelt, hatte Pfohls Behörde 2015 eine Unterbesetzung von 5,46 Staatsanwälten. Derzeit arbeiten in Tübingen 25. Selbst wenn dringend benötigte Stellen bewilligt würden, sieht Oberstaatsanwalt Martin Klose ein Nachwuchsproblem für die Justiz: „Die Einstiegsbesoldung wurde zuletzt um acht Prozent gesenkt.“ Derzeit liegt sie bei 3499,30 Euro. „Da können wir im Wettbewerb mit großen Kanzleien nicht mithalten.“ Die würden teilweise sechsstellige Einstiegsgehälter bezahlen.