Unicef-Nothilfe nach Sturm und Beben

Tübingerin hilft, Haitis Kinder nicht zu vergessen

Sie war mitten drin, als Hurrikan Matthew am 4. Oktober mit bis zu 230 Kilometern pro Stunde auf Haiti wütete. Seit mehr als zwei Jahren arbeitet Cornelia Walther dort für Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.

14.12.2016

Von Clemens Hirschfeld

Nur noch eine einzige Straße führt von der Hauptstadt Port-au-Prince nach Jérémie, in die Stadt im Südwesten Haitis, die Hurrikan Matthew mit voller Gewalt getroffen hat. Sieben Stunden dauert die Fahrt durch völlig verwüstete Landstriche. Mitten im Nirgendwo steht plötzlich eine Mauer. Viel mehr ist von dem Haus einer Familie nicht übriggeblieben. Was im Sonnenschein kaum aufrecht stand, hatte keine Chance bei dem Sturm. Daneben stehen abgeknickte Obstbäume, unter denen vergammelte Avocados und Grapefruits liegen. Wovon die Familie jetzt leben soll, weiß sie nicht.

Das war fünf Tage nachdem Hurrikan Matthew mit unerbittlicher Brutalität Haitis Süden verwüstet hatte. Sturmböen mit Windstärke vier, sintflutartiger Regen und haushohe Wellen haben Chaos hinterlassen und die Ernte zerstört. Familien, die vorher schon am Existenzminimum gelebt haben, von magerer Landwirtschaft, zwei, drei Kühen oder einem kleinen Hofladen, stehen jetzt vor dem Nichts.

„Die totale Zerstörung von Matthew zieht dich runter. Man fühlt sich so unmündig und unzureichend.“, sagt Cornelia Walther aus Tübingen, als sie die Szenerie via Skype beschreibt. „Es wird lange dauern, bis das wieder in Ordnung kommt.“

Schon vor dem Hurrikan war die Infrastruktur vor allem in den ländlichen Gebieten Haitis schlecht: kaum befahrbare Straßen, wenige Schulen, schlecht ausgestattete Krankenhäuser und nur unzureichende Trinkwasserversorgung. „Deshalb sind die Auswirkungen von Naturkatastrophen auf Haiti viel gravierender, als wenn solch ein Sturm beispielsweise Deutschland treffen würde“, erklärt die Unicef-Mitarbeiterin.

Cornelia Walthers Job ist es, die Aufmerksamkeit der Welt immer wieder auf Haiti zu lenken und vor allem auf die Situation der Kinder hinzuweisen. „Chief of Communications“ lautet ihr offizieller Titel bei Unicef. Man kann ihn am besten mit klassischer Öffentlichkeitsarbeit übersetzen. Also Pressemitteilungen schreiben, Fotos schießen und Videos für die Medien und das Internet produzieren. Aber ihre Arbeit ist mehr als bloßes Bereitstellen von Informationen. Cornelia Walther will etwas bewirken. Andere Menschen dazu bewegen, dass sie den Kindern auf Haiti helfen und dafür Sorge tragen, dass das Land neben anderen Krisenherden wie Syrien nicht in Vergessenheit gerät.

Hurrikan Matthew hat 546 Menschenleben gefordert. Laut Unicef sind knapp 600 000 Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen. In den vergangenen zwei Monaten hat es rund 1000 Cholera-Infektionen bei Kindern gegeben. 50 000 Kinder haben ihr Zuhause verloren und sind in Notunterkünften untergebracht. Von akuter Mangelernährung bedroht sind nach Schätzungen mindestens 112 000 Kinder.

Anteilnahme und Spendenbereitschaft unmittelbar nach dem Hurrikan waren groß. „Doch Haiti braucht langfristige Hilfen und Partnerschaften“, ist Cornelia Walther überzeugt. Denn noch immer hat der arme Inselstaat mit dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar 2010 zu kämpfen. Damals kamen offiziellen Schätzungen zufolge 316 000 Menschen ums Leben, 1,85 Millionen waren obdachlos.

Cornelia Walther berichtet von Kindern, die nach dem Hurrikan wieder der Natur ausgesetzt sind, die kein Dach über dem Kopf haben und kein sauberes Trinkwasser. „Es kann doch nicht sein, dass Kinder im 21. Jahrhundert an Durchfallerkrankungen oder Cholera sterben“, beklagt die Unicef-Mitarbeiterin.

Genügend Essen, Kleidung oder Schulbildung – Dinge die in Deutschland völlig normal erscheinen, sind in Haiti nicht vorhanden. Ihr selbst wird das immer dann bewusst, wenn sie in den Ferien zu ihren Eltern nach Tübingen kommt: „Allein die Tatsache, dass wir jeden Morgen den Wasserhahn aufdrehen und da nicht nur ein Rinnsal rauskommt oder es beim Drücken des Lichtschalters tatsächlich hell wird, zeigt, dass die Deutschen in einer vollkommen anderen Welt leben.“

Cornelia empfindet ihr Leben als privilegiert. Sie ist überzeugt: „Die Sekunde, in der wir geboren werden, entscheidet über 99 Prozent unseres Lebens.“ Soll heißen, sie habe nicht mehr Verdienst daran, dass sie als weiße Frau in Deutschland geboren ist, als ein schwarzer Junge, der in Port-au-Prince auf die Welt kommt. „Schon als ich klein war fand ich es ungerecht, dass ich alles habe und viele nichts haben.“ Das hört sich idealistisch an – es kam der Tübingerin aber schon immer „total normal vor, anderen helfen zu wollen“.

Cornelia Walther ist heute 39 Jahre alt, wohnt aber schon seit mehr als 15 Jahren nicht mehr in Deutschland. Nach ihrem Jurastudium in Tübingen und Frankreich arbeitete sie für das Welternährungsprogramm der UN in Mali, bevor sie für drei Jahre im Tschad in der Grenzregion zu Darfur die Hilfskommunikation für Unicef übernahm. Danach folgten Stationen in Afghanistan und der demokratischen Republik Kongo. Während dieser Zeit promovierte sie zum Thema Verwirklichung von Kinderrechten. Mit Frau Doktor wird sie aber so gut wie nie angesprochen.

Bei ihrer Arbeit in den Krisengebieten muss sie jeden Tag viel Not und Elend ertragen. So auch bei einem Besuch im Cholera-Behandlungszentrum von Pestel, einer kleinen Stadt drei Stunden Fahrtzeit von Jérémie entfernt. Hier trifft sie den 24-jährigen Ariel. Er ist total abgemagert, seine Wangen eingefallen, die Augen leer. Seine gesamte Familie ist an Cholera erkrankt, weil sie schmutziges Wasser getrunken haben. Am liebsten würde Cornelia ihm alles geben, was sie dabei hat – obwohl sie weiß, dass diese kleine Geste nur wenig bewirken würde.

Dass sie auch an diesem Tag auf der Straße mehr Menschen lachen sieht als in einer ganzen Woche in Tübingens Fußgängerzone, gibt ihr Hoffnung: „Die Haitianer haben eben eine ganz andere Einstellung zum Leben. Die Leute hadern nicht mit ihrem Schicksal.“ Es sei bewundernswert, dass die Menschen auf Haiti die schweren Schicksalsschläge akzeptierten, aufstehen und mit dem wenigen, was ihnen bleibt, den Wiederaufbau anpacken.