Autonomes Fahren

Unterwegs in die Zukunft

Die Reutlinger Hochschule forscht an der Technik selbstfahrender Autos. Informatiker schaffen Grundlagen für deren Interaktion mit Fußgängern, Design-Studierende entwerfen das künftige Interieur der Fahrzeuge.

29.03.2019

Von Matthias Reichert

Bild: Hochschule Reutlingen

Bild: Hochschule Reutlingen

Björn Browatzki trägt eine Art Spiderman-Kostüm mit vielen weißen Knöpfen. Über diese Sensoren nehmen 20 Kameras die Bewegungen des wissenschaftlichen Mitarbeiters der Hochschule Reutlingen mit Infrarotstrahlen auf. Auf dem Bildschirm dahinter ist Browatzkis Silhouette als Skelett zu sehen. Per Mausklick verwandelt er sich auf dem Monitor in einen muskelbepackten Helden wie in einem Hollywood-Spielfilm. Solche „Avatare“, wie die computeranimierten Figuren genannt werden, bilden das menschliche Skelett und seine Bewegungen ab.

„Motion Capture Labor“ nennt sich die 2016 in Betrieb gegangene Einrichtung der Reutlinger Informatiker. Den Löwenanteil der Kosten von mehr als einer halben Million Euro hat das Bundesforschungsministerium übernommen. Das Labor schafft Grundlagen für autonom fahrende Autos. Es geht darum, wie selbstfahrende Fahrzeuge auf unvorhergesehene Situationen reagieren. Etwa, wenn Passanten plötzlich auf die Straße laufen. Menschen haben intuitiv gelernt, mit solchen Risiken umzugehen. Selbstfahrende Autos können Fußgänger und Hindernisse über Sensoren, Radar oder nachts mit Infrarotkameras wahrnehmen. Das wirft Grundsatzfragen auf, sagt Prof. Cristóbal Curio, der das Forscherteam leitet: „Können wir es einem autonomen System zutrauen, über Risiken zu entscheiden?“

Im Motion Capture Labor erforschen Reutlinger Informatiker die Bewegungen von Fußgängern. Bild: Hochschule Reutlingen

Im Motion Capture Labor erforschen Reutlinger Informatiker die Bewegungen von Fußgängern. Bild: Hochschule Reutlingen

Mit dem beschriebenen „Trackingsystem“ werden Bewegungsabläufe von Fußgängern untersucht. Mobile Geräte, sogenannte „Eye-Tracker“, erfassen zudem das Blickverhalten der Fußgänger. Und ein 3D-Scanner digitalisiert den menschlichen Körper naturgetreu. So können die Reutlinger Forscher diverse Bewegungsmerkmale erkennen und sensorbasierte Verfahren entwickeln. Diese interpretieren mit künstlicher Intelligenz menschliche Bewegungen und steuern entsprechende Reaktionen der potentiell autonomen Autos.

Debattiert wird auch darüber, wie Fußgänger ihrerseits die Absichten des selbstfahrenden Fahrzeugs erkennen. Soll es Laserstrahlen auf die Straße projizieren und damit die Fahrtrichtung anzeigen? Oder werden Augenmodelle in die Scheinwerfer eingebaut? Es gehe darum, Vertrauen aufzubauen, sagt Curio. Daimler-Autos können auf der Autobahn bereits autonom fahren. Doch bei Baustellen und Unfällen muss der menschliche Fahrer übernehmen. Das Problem: „Wann erkennt ein System, dass es mit einer Situation nicht klarkommt?“, so Curio. Denn dazu müsse es die Situation ja auch schon erkennen.

Prof. Cristóbal Curio. Bild: Hochschule Reutlingen

Prof. Cristóbal Curio. Bild: Hochschule Reutlingen

Curio und sein Team genießen weltweites Ansehen für ihre Forschungen. „Wir sind auf Augenhöhe mit Google und Mercedes unterwegs“, sagt Curio stolz. Im November haben die Reutlinger Informatiker bei einer Konferenz über intelligente Verkehrssysteme auf Hawaii den Preis für eines der beiden besten Präsentations-Papiere gewonnen – unter mehr als 600 Konferenzbeiträgen. Sie haben gezeigt, wie simulierte Daten für den realen Einsatz im Autonomen Fahren genutzt werden können. In einem Forschungsprojekt arbeiten die Informatiker bereits mit Zulieferern aus der Automobilindustrie zusammen.

Noch weiter in die automobile Zukunft schauen die 18 Absolventen des Reutlinger Studiengangs Transportation Interior Design. Zuletzt war das autonome Fahren Thema ihrer Abschluss-Arbeiten. Dabei ist es ein Semester lang um die erforderliche Flexibilität der Fahrzeug-Innenräume sowie um Car-Sharing gegangen. „Als Inspiration für neue Nutzungs-Szenarien“, sagt Studiendekanin Prof. Andrea Lipp-Allrutz.

Wenn die Autos selbst fahren, können die Menschen unterwegs lesen, Filme schauen, Dienstbesprechungen abhalten. Dazu müssen die Sitze drehbar sein oder auch als Liegen verwendbar. Zudem soll man sie herausnehmen können, damit die Autos ganz ohne menschliche Passagiere auch Güter transportieren können. So haben die Studierenden etwa Nutzungs-Szenarien für den ländlichen Raum entwickelt. Morgens bringen selbstfahrende Autos die Kinder zur Schule, mittags kutschieren sie Ältere zum Arzt, später bringen Bauern ihre Erzeugnisse damit zum Markt. Die Nutzer wären beispielsweise Kommunen.

Die Studierenden Diana Kottler und Artur Jarzebski haben ihren Entwurf „Emma“ getauft. Mit höhenverstellbaren und komplett versenkbaren Sitzen kann man darin tagsüber bis zu sechs Personen chauffieren, auch über weite Strecken – zudem können landwirtschaftliche Güter transportiert werden. Für die Passagiere haben sich die Studierenden außerdem eine integrierte Sushi-Röhre ausgedacht, die Snacks liefert. Ein weiterer Entwurf sah vor, selbstfahrende Autos als mobiles Büro oder mobile Praxen zu nutzen – etwa für Streetworker, Rechtsanwälte oder Zahnärzte.

Die Konzepte der Studierenden werden zwar nicht eins zu eins umgesetzt. Aber die beteiligten Firmen greifen sie auf und entwickeln sie weiter. Bei den aktuellen Abschlussarbeiten hat die Hochschule mit dem fränkischen Fahrzeugteile-Hersteller Brose zusammengearbeitet. Dieser Kontakt ist auf der Automobilmesse IAA entstanden, erzählt die Studiendekanin.

Die Ideen in den Projektarbeiten werden virtuell dargestellt. Dazu entwickeln die Studierenden Animationen, drehen kurze Filme und arbeiten mit Computerprogrammen für virtuelle Realität. Die Entwürfe sind dreidimensional. Die Studierenden haben auch eine App entwickelt, mit der Kunden die selbstfahrenden Autos bei Kommunen buchen können. Für dieses technische Know-how kooperieren die Reutlinger Designer mit der Stuttgarter Hochschule der Medien.

In früheren Projekten haben die Reutlinger Designer unter anderem schon das Design für ein autonomes Shuttle-Fahrzeug im urbanen Raum entwickelt. Das wäre als Zubringer für Flughäfen oder für den Transitverkehr in großen Städten nutzbar. „Damit geht man auch andere Verkehrsprobleme an“, sagt Lipp-Allrutz. Beispielsweise können selbstfahrende Fahrzeuge rund um die Uhr genutzt werden – sie brauchen praktisch keine Parkplätze mehr. Und Car-Sharing ist ohnehin ein Dauerbrenner. „Die jungen Leute wollen sich das Auto nicht vor die Tür stellen“, sagt die Professorin. Autos seien für sie keine Statussymbole mehr. Sie wollten vielmehr über die Funktionalität verfügen, wenn sie diese gerade brauchten.

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Erstellt:
29.03.2019, 07:50 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 37sec
zuletzt aktualisiert: 29.03.2019, 07:50 Uhr

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