Varianten der Bürgerbeteiligung

Kreuzerfeld-Siedlung Rottenburg macht einen neuen Anlauf, das südliche Wohnquartier der Kernstadt mit Infrastruktur auszustatten. Die Bewohner werden gefragt. Gert Fleischer

17.11.2016

Das Kreuzerfeld in Rottenburg: In der unteren Hälfte das Neubaugebiet „Kreuzerfeld-Süd“, darüber das alte „Kreuzerfeld“, das sich rechts des Bildrands noch weit nach Osten erstreckt. Luftbild: Grohe

Das Kreuzerfeld in Rottenburg: In der unteren Hälfte das Neubaugebiet „Kreuzerfeld-Süd“, darüber das alte „Kreuzerfeld“, das sich rechts des Bildrands noch weit nach Osten erstreckt. Luftbild: Grohe

Wenn Emotionen, Vorwürfe und Alternativanträge Kennzeichen einer engagiert geführten Sitzung sind, dann machte der Sozialausschuss des Rottenburger Gemeinderats am Dienstagabend seine Sache gut. Am Ende stand ein einstimmiger Beschluss, obwohl es zuvor gekracht hatte und Oberbürgermeister Stephan Neher auf beleidigte Leberwurst machte.

Es war Enttäuschung, weil es die Stadtverwaltung besonders gut machen wollte. Baubürgermeister Thomas Weigel hatte von einer Fortbildung bei der Architektenkammer Erkenntnisse mitgebracht, wie die häufig Unfrieden hinterlassende Bürgerbeteiligung besser gestaltet werden kann: Zuerst sollen alle Bewohner im zu bearbeitenden Gebiet per Fragebogen ihre Wünsche nennen. Dann würde ein BürgerInnenrat gebildet – eine Idee, die aus Vorarlberg kommt. Dafür soll eine größere Anzahl der Leute im Projektgebiet nach Zufallsauswahl angeschrieben und zur Mitarbeit in dem befristet existierenden Gremium eingeladen. Dieser Rat, erklärte Weigel, arbeite zunächst nichtöffentlich, damit sich alle Teilnehmer äußern können ohne Angst, dass es gleich in der Presse steht und manche Leute darüber spotten.

Ein externes Planungsbüro soll den BürgerInnenrat begleiten und die Ergebnisse verarbeiten, damit sie publik gemacht werden. Entscheiden würde der Gemeinderat. Weigel: „Am Ende sollte ein Quartiersentwicklungskonzept stehen, das wir im Lauf der nächsten Jahre abarbeiten wollen.“ Es geht um die beiden Plangebiete „Kreuzerfeld“ und „Kreuzerfeld-Süd“. Etwa 3100 Menschen wohnen dort.

Margarete Nohr, die SPD-Fraktionschefin, fand es gut, alle Bewohner zu befragen. „Sehr, sehr skeptisch“ jedoch sei sie beim BürgerInnenrat. Der funktioniere nur, wenn zu einem Thema noch nicht viel erarbeitet sei. Zu Infrastruktur und Versorgung im Kreuzerfeld aber gebe es „schon sehr viel Vorlauf“.

Die Stadt könne deshalb nicht planen, ohne bisher beteiligte Organisationen einzubeziehen wie den Förderverein „Haus der Nachbarschaft“, die Schulen, den Freundeskreis behinderter Menschen, den Bezirksseniorenrat, den Jugendbeirat und so weiter. Weigels Aussage, die Aufgaben „im Lauf der nächsten Jahre“ abzuarbeiten, gehe an der Realität vorbei. Nohr: „Das ist keine Perspektive für die Leute da oben.“

Die Stadt investiere kräftig im Kreuzerfeld, wandte sich OB Neher gegen Unterstellungen, dort geschehe nichts. Außerdem sei allenfalls im „Kreuzerfeld-Süd“ wegen des Nachbarschaftshauses kräftig vorgearbeitet worden, nicht aber in der alten Kreuzerfeld-Siedlung.

Weigel sagte, der Verwaltung werde vorgeworfen, sie unterhalte sich stets mit Leuten, mit denen sie sowieso immer rede: „Schmurgeln wir hier nicht im eigenen Saft zusammen mit denen, die es gewohnt sind, ihre Interessen zu vertreten? Ob Schänzle, Stadtbibliothek oder Kreuzerfeld-Süd – da sind doch zum Teil die selben Leute engagiert.“

Hermann Josef Steur (SPD) sagte, man solle im Kreuzerfeld nicht wieder „bei Null anfangen“, sondern effektiv vorgehen. Emanuel Peter (Linke) meinte, der Förderverein Haus der Nachbarschaft würde sich nach vier Jahren Vorarbeit „ziemlich verarscht fühlen“, wenn er die städtischen Sitzungsvorlage lesen würde. Jetzt Leute aus der Siedlung „nach dem Zufallsprinzip“ in einen BürgerInnenrat zu entsenden und nichtöffentlich tagen zu lassen, nannte Peter „Perversion von Bürgerbeteiligung“.

Dann las Peter einen gemeinsames Papier von SPD, Linke und WiR vor. Die drei Gruppen fordern, die für den erfolglosen Antrag beim Bund bereitgestellten 450 000 Euro fürs Nachbarschaftshaus in den Haushalt 2017 zu übertragen. Außerdem soll sich die Stadt bei dem neuen Bundesprogramm bewerben, bei dem es ab Januar 90 Prozent Zuschuss von Bund und Land gibt. Peter: „So billig käme Rottenburg nie wieder an ein beispielgebendes Projekt für Jung und Alt, Alt- und Neubürger verschiedenster Nationalitäten und Menschen mit und ohne Behinderung.“

Der OB rief: „Mit dem Antrag entlarven Sie sich selbst.“ Es gehe den Antragstellern bloß um das Nachbarschaftshaus, nicht um eine umfassende Quartiersentwicklung. Die Stadt habe den Förderverein nicht verarscht, sondern das neue Vorgehen mit ihm besprochen und abgestimmt. Der Verwaltung vorzuhalten, sie schiebe Projekte auf die lange Bank, sei Populismus.

Kurt Hallmayer (CDU) sagte, der Vorstoß von SPD, Linken und WiR unterstelle, „dass etwas verhindert werden soll – das Gegenteil ist der Fall.“ Zudem komme der Antrag daher, „als ob die anderen zu blöd wären“, die neuesten Förderprogramme zu kennen. Neher wies darauf hin, dass die Richtlinien für das genannte Bundesprogramm noch nicht formuliert seien.

Jörn Heumesser (WiR) empfahl der Stadt, wie die Industrie zu arbeiten: „Ziel definieren, den zeitlichen Endpunkt festlegen, eine Kontrollinstanz einsetzen.“ Baubürgermeister Weigel: „Genau das wollen wir nicht. Dann würde man uns wieder vorwerfen, dass wir in ein Projekt gehen, bei dem wir das Ziel schon kennen und keine Abweichung dulden.

Nohr und Steur gelang es zu schlichten. Nohr sagte: „Ich fühl’ mich im Gemeinderat auch manchmal verarscht. Aber ich sag’ nicht: Sie verarschen mich!“ Damit lehrte sie den OB nicht nur den Unterschied zwischen „Sie haben mich“ und „Ich fühle mich“, sondern brachte ihn auch zum Lachen. Emanuel Peter beharrte darauf, über den BürgerInnenrat erst zu entscheiden, „wenn ich weiß, worüber er berät“. Daraufhin machte Neher aus dem BürgerInnenrat kurzerhand einen Arbeitskreis und ließ abstimmen: Erstens Umfrage, zweitens Arbeitskreis nach altem Muster mit üblichen Beteiligten.

Das beschloss der Rat einstimmig. Neher kommentierte: „Der BürgerInnenrat, der kostet mehr. Mehr Geld und mehr Aufwand. Den machen wir dann bei einem anderen Thema.“

Gefragt, debattiert und geplant wurde schon öfter im Kreuzerfeld, aber geschehen ist nicht viel

Im Jahr 2009 zimmerte das Rottenburger Baudezernat einen Runden Tisch, um die Bewohner der alten Kreuzerfeld-Siedlung nach ihren Wünschen fürs Wohnumfeld zu befragen. Das TAGBLATT schrieb: Die Teilnehmer/innen „äußerten ihr Unverständnis, dass nun wieder geredet, erforscht, geplant werde. Längst sei bekannt, was fehlt. Nur gemacht werde es nicht.“

Die Wünsche der in und mit der Siedlung alt gewordenen Menschen waren nicht spektakulär, denn in mehreren Umfragen hatte sich die Menschen mit ihrer Wohnsituation zufrieden geäußert. 2011 wurde der Runde Tisch mangels Bürgerengagement eingestellt. Es blieb eine Prioritätenliste, umgesetzt wurde außer den Buswartehäuschen kaum etwas.

Unterdessen wuchs das Neubaugebiet „Kreuzerfeld-Süd“ heran mit vielen jungen Familien. Es gelang, einen Supermarkt anzusiedeln. Doch das am Grünen Tisch geplante „Urbane Zentrum“ mit Geschäften, Dienstleistung und Praxen scheiterte an der Realität: Es fanden sich keine Investoren oder Mieter.

2012 formulierten Bewohner den Wunsch nach einem „Haus der Nachbarschaft“ mit allem, was sich heutzutage für solch ein Gebäude für alle Generationen geziemt. Wieder entstand ein Runder Tisch, 2014 wurde sogar ein Verein gegründet. Externe Moderation und eine Planungswerkstatt führten zu einem Nutzungskonzept.

Hauptstreitpunkt blieb der Standort: Der Verein wollte das Herzgrundstück mitten im „Kreuzerfeld-Süd“, die Stadtverwaltung zog einen Bau beim Sportplatz vor, um dort auch Funktionen der Schule unterzubringen. Nachdem die Stadt vor einem Jahr mit dem Projekt nicht in ein Förderprogramm des Bundes kam, machte sich wieder Stille und Lähmung breit. Im Sommer dieses Jahres bewegte die SPD-Fraktion die Stadt dazu, sich wieder um das Thema zu kümmern.

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Erstellt:
17.11.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 26sec
zuletzt aktualisiert: 17.11.2016, 01:00 Uhr

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Doenerknall 17.11.201619:45 Uhr

Im Kreuzerfeld-Süd läuft einiges schief. Die Busse dürfen parken wo sie wollen, auch auf dem Gehweg, die ganze Nacht und am Wochenende (Kurt-Georg-Kiesinger-Straße vor dem Netto) , wenn ich das als Bürger mache, bekomme ich einen Strafzettel. Schön das es eine Busanbindung gibt, aber dass sollte die Unternehmen nicht zur Narrenfreiheit berechtigen. Busse sollten sich auch mal an die 30 km/h halten. Lastwagen parken auf der Willy-Brandt-Straße das ganze Wochenende, werden dann morgens um 5 Uhr warmlaufen gelassen, ist eigentlich wie im Industriegebiet. Spricht man mit dem Ordnungamt passiert nichts.... Hundebesitzer lassen ihre Hunde auf den unbebauten Grundstücken kacken usw.....

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