Diabetes Mellitus

Die Freunde passen mit auf ihn auf

Nico Götz muss sich seit anderthalb Jahren Insulin spritzen. Der Elfjährige hat geradezu mustergültig gelernt, mit seiner chronischen Erkrankung zu leben – und zu einer Balance aus Disziplin und Spaß gefunden.

16.11.2018

Von Ulla Steuernagel

Nico Götz ist ein großer Fan von Bayern München, er spielt Fußball, geht gerne zur Schule - und er hat Diabetes, womit er gelernt hat zu leben. Bild: Ulla Steuernagel

Nico Götz ist ein großer Fan von Bayern München, er spielt Fußball, geht gerne zur Schule - und er hat Diabetes, womit er gelernt hat zu leben. Bild: Ulla Steuernagel

Es ist gerade mal anderthalb Jahre her, als das Leben von Nico Götz eine Wendung nahm. Bis dahin hatte der damals 9-Jährige einen Alltag wie andere gleichaltrige Jungen. Er ging in die vierte Klasse der Grundschule in Talheim bei Horb, schwärmte für Bayern München und spielte selber gerne Fußball. Doch ein Sonntag in den Pfingstferien des vergangenen Jahres stellte diese Normalität auf den Kopf.

Nico war es schon Tage zuvor nicht besonders gut gegangen. „Er war schlapp, total abgeschlagen und konnte sich nicht lange konzentrieren“, erinnert sich seine Mutter Nicole Götz an diese Zeit. Sie hatte damals den Verdacht, Nico brüte einen Infekt aus. Als die Familie dann in den Pfingstferien einen Ausflug in den Erlebnispark Tripsdrill machte, war sich die Mutter schon ziemlich sicher, dass mit ihrem Sohn „irgendwas komisch“ war. Er musste sich immer wieder hinsetzen, er hatte, obwohl sonst begeisterter Achterbahnfahrer, diesmal keine Lust auf solche Rasereien.

Dann kam der Sonntag, und Nico entwickelte einen tierischen Durst. Er trank und trank und trank, ohne dass der Durst verschwand. Dabei habe sie Nico normalerweise eher daran erinnern müssen, etwas zu trinken, sagt die Mutter. Morgens und mittags hatte er an diesem Tag jedoch schon einige Liter intus, und Nicole Götz war damit schon fast klar, was mit dem Jungen los war, sie dachte sofort an Diabetes, Typ 1, der eben schon im Kindesalter auftritt. Götz arbeitet nämlich als Sekretärin bei einem Diätassistenten und Ernährungsberater, also hatte sie auch ein Blutzuckermessgerät zur Hand. Das Gerät machte unmissverständlich deutlich, dass mit Nicos Werten etwas nicht stimmt, sie lagen nämlich außerhalb der Skala.

Die Mutter rief beim Notdienst der Tübinger Kinderklinik an und wurde dort mit der Diabetes-Ambulanz verbunden. Danach war klar, dass der Junge stationär aufgenommen werden würde. Und Nico selber? Wie ging es ihm in dieser Situation? „Ich war nicht besonders beunruhigt“, sagt der heute 11-Jährige. „Eigentlich nur ein bisschen aufgeregt.“ Das Gute war, in der Klinik wurde ihm zwar erst Blut abgenommen, aber dann setzte mit der Insulinspritze die Erleichterung ein: „Eine Viertelstunde später hatte ich keinen Durst mehr!“

Ja, und von da an begann Nicos neues Leben, an das er sich, nun anderthalb Jahre später, erstaunlich gut gewöhnt hat.

Zunächst musste er zehn Tage in der Kinderklinik bleiben. Er wurde hier genau untersucht, auf die Insulinbehandlung eingestellt und vor allem auch geschult. Schließlich muss man sich an eine Ernährung und die Behandlung mit Insulin gewöhnen.

Diabetespatienten produzieren kein oder nur wenig Insulin. Ohne Insulin funktioniert aber die Übertragung des mit der Nahrung aufgenommenen Zuckers vom Blut in die einzelnen Zellen nicht. Durch diese Aufnahme werden die Zellen mit Energie versorgt. Wenn der Blutzuckerspiegel jedoch immer nur ansteigt, schädigt das die Gefäße, Nerven und Organe schwer und führt ohne Behandlung bis zum Tode.

Um einem zu hohen Blutzucker zu begegnen, spritzen sich Diabetiker das lebensnotwendige Insulin in zwei verschiedenen Formen. Morgens und abends bekommt Nico ein langsam wirkendes Insulin, das den täglichen Grundbedarf abdeckt. Zu den Mahlzeiten injiziert er sich ein schnell wirksames Insulin, dessen Dosis nach Tabelle und Kohlenhydrat-Einheiten berechnet wird. Anfangs musste für Nico noch eine Spritze aufgezogen werden. Doch bald konnte er auf die praktischeren und unauffälligeren Pens wechseln, die ungefähr die Größe eines Kulis haben.

Und von einer anderen Erleichterung profitiert Nico ebenfalls: Während er anfangs im Zwei-Stunden-Rhythmus in den Finger gepiekst wurde, um den aktuellen Blutzucker zu bestimmen, trägt er nun ein Flash Glucose Monitoring am Oberarm, das alle zwei Wochen erneuert wird. Das bedeutet, über einen Sensor wird laufend der Blutzucker im Gewebe bestimmt. Die Werte können über ein kleines Empfangsgerät abgerufen werden, und sie werden auch in ihrem Gesamtverlauf festgehalten.

Mittlerweile hat sich sehr viel Routine im Umgang mit Nicos Diabetes gebildet. Die nächtlichen zweistündigen Messungen schlauchten auch die Mutter. Jetzt muss sie den letzten Wert um 23 Uhr überprüfen und stört dabei noch nicht einmal Nicos Schlaf. Einmal im Monat wird noch um 3 Uhr morgens kontrolliert.

Während des stationären Aufenthalts in der Klinik blieb die Mutter Tag und Nacht bei ihrem Sohn. Zur Schulung kam tagsüber auch der Vater dazu, der sich in dieser Zeit von seinem Arbeitgeber freistellen ließ. Denn den Eltern war klar, je mehr sie selber über die chronische Erkrankung ihres Kindes wissen, desto besser können sie es unterstützen und auch zu einem selbstständigem Umgang mit dem Diabetes anhalten. Klar ist, der Diabetes (Typ 1) wird den Jungen ein Leben lang begleiten. Er wird sein Leben lang Kohlenhydrat-Einheiten berechnen, er wird kontrolliert essen, mehr planen müssen als andere, er wird mit ständigen Messungen zu tun haben, sich regelmäßig Insulin zuführen müssen, und er muss mit den Risiken einer Unterzuckerung leben, die zu plötzlicher Bewusstlosigkeit führen kann. Doch das Risiko erscheint in Nicos Fall gering. Er ist ein richtiger Vorzeigepatient, auch für den behandelnden Diabetologen in der Tübinger Kinderklinik, Prof. Andreas Neu.

„Nico ist vernünftig und diszipliniert“, sagt die Mutter voller Stolz über ihren Sohn. Auch früher habe er sich schon immer gesund ernährt, war nie so hinter Süßigkeiten her wie andere Kinder. Und gehe aufmerksam mit sich um. Das heißt, er merkt, was nicht selbstverständlich ist, wenn sich der Unterzucker ankündigt. Wie und woran? „Ich kann das Gefühl gar nicht beschreiben“, sagt der Junge und überlegt: „Es ist, als wenn etwas in mir zusammensackt.“ Die Mutter alarmiert er dann mit den Worten: „Mama, ich glaub’, ich bin niedrig!“

Andere Unterzucker-Symptome kann er besser schildern, die Hände fangen an zu zittern und „mir wird so komisch im Kopf“. Für solche Komisch-im-Kopf-Fälle trägt er ein kleines Notfallset bei sich. Es enthält außer seinem Patienten-Ausweis, Traubenzucker in fester und schnell wirksamer flüssigen Form. Zu Hause lagert auch eine Glukagon-Spritze, einem Hormon, das die Zuckerreserven im Körper mobilisiert und den Blutzuckerspiegel schnell ansteigen lässt.

Genauso wichtig ist, dass Nicos Umgebung über die Krankheit und die Gefahren informiert ist. So kam zu Beginn seiner Gymnasialzeit eine Diabetesberaterin aus der Kinderklinik an die neue Schule und klärte Mitschüler und Lehrer über die Erkrankung auf. Finanziert wurde das Ganze durch den Diabetes-Förderverein Tübingen. Von Anfang an ging auch die Familie sehr offen damit um. „Es wäre fatal, die Krankheit zu verschweigen“, so Nicole Götz. Denn es ist wichtig, dass Freunde im Notfall reagieren können. „Meine Freunde passen mit auf“, sagt der Junge. So werde er von ihnen manchmal sogar daran erinnert, dass er jetzt doch etwas essen müsse.

Zu Beginn seines Diabetes ging Nico noch in die Grundschule in Talheim. Da reagierten die unteren Klassen manchmal etwas komisch, weiß Nico noch. Im Horber Gymnasium werde höchstens mal komisch geguckt, wenn er sich in der Mensa spritzen muss: „Immer“, so Nico, „wenn ich an einem Tisch an der Essensschlange sitze.“

Rechnen hat Nico nicht erst gelernt, seit er Kohlenhydrateinheiten addieren muss. „Das konnte er auch schon vorher gut“, so die Mutter. Ein guter Schüler ist er sowieso.

Und wie sieht es mit Sport aus? Nico schaut zögernd zu seiner Mutter, so als wollte er sich nicht selber loben. Aber ein Blick in sein Zimmer zeigt, was Sport für ihn bedeutet. Die Wände hängen voll mit Bayern-München-Fotos, die Bettwäsche trägt das Bayern-Logo. Der Schreibtischstuhl erinnert an den Lieblingssport Fußball und das Regal beweist, dass Nico nicht nur die Spiele seiner Mannschaft vor dem Bildschirm verfolgt, sondern auch selber hinter dem Ball herrennt: Ein Bücherbord steht voller Pokale. Einziger Unterschied zu seinen Mitspielern: Nico muss vor Beginn eines Matches seinen Blutzucker messen.

Diabetes Typ 1 und 2 sind das Thema des Expertenpodiums am Donnerstag, 22. November

Von links: Prof. Andreas Neu, Prof. Baptist Gallwitz, Prof. Andreas Fritsche, Prof. Norbert Stefan und Dr. Jan Stock. Bilder: UKT (4), Ulrich Metz (1)

Von links: Prof. Andreas Neu, Prof. Baptist Gallwitz, Prof. Andreas Fritsche, Prof. Norbert Stefan und Dr. Jan Stock. Bilder: UKT (4), Ulrich Metz (1)

Zum Gesundheitstag Diabetes laden das Universitätsklinikum Tübingen und das TAGBLATT am Donnerstag, 22. November, ab 19 Uhr ins Sparkassen Carré. Professoren und Ärzte des Universitätsklinikums Tübingen werden dabei in allgemeinverständlicher Form über den neuesten Stand bei der Diagnose und Behandlung der verschiedenen Formen von Diabetes berichten und sich den Fragen des Publikums stellen.

Fünf Diabetes-Experten antworten. Es sind: Prof. Baptist Gallwitz, Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik, Prof. Andreas Fritsche und Prof. Norbert Stefan, beide Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik und Deutsches Zentrum für Diabetesforschung, Prof. Andreas Neu von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und der niedergelassene Internist mit Schwerpunktpraxis für Diabetologie und Gefäßmedizin, Dr. Jan Stock. Moderiert wird das Gespräch von TAGBLATT-Redakteur Ulrich Janßen. Zwischen 18 und 19 Uhr können sich die Besucher kostenlos den Blutzuckermessen lassen. Vorweg können Fragen ans TAGBLATT unter service@tagblatt.de geschickt werden. Die Veranstaltung ist kostenlos, Anmeldung ist nicht erforderlich.

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Erstellt:
16.11.2018, 17:30 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 16.11.2018, 17:30 Uhr

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