Öffentlicher Nahverkehr · Palmers Modell zerrupft

Viele Tübinger Stadträte kritisierten den Entwurf des Oberbürgermeisters zum ticketlosen Busfahren

Viel Gegenwind schlug Oberbürgermeister Boris Palmer am Donnerstag entgegen, als er sein Projekt eines ticketfreien Busverkehrs für Tübingen im Verwaltungsausschuss des Gemeinderats vorstellte und verteidigte. Vor allem seine Finanzierungsvorschläge für diese so genannte „TüBus-Flatrate“ kritisierte die Mehrheit.

29.04.2017

Von Gernot Stegert

Symbolbild: Metz

Symbolbild: Metz

Ein geteiltes Echo gab es auf das Modell und den Plan, parallel zur Bundestagswahl am 24. September die Bürger zu befragen. Eine Abstimmung darüber wurde verschoben auf die Gemeinderatssitzung am 8. Mai. Gegen eine Befragung wandte sich keiner.

Palmer wollte sich vom Gremium den Auftrag holen, für eine Bürgerbefragung steuerliche und rechtliche Fragen zu klären. Das nämlich sei aufwändig und unnötig, wenn der Gemeinderat den ticketfreien Bus ablehne. Einigkeit herrschte, dass möglichst viele Menschen vom Auto auf den Bus umsteigen sollen. Denn das entlastet die Umwelt und die Straßen. Ein Workshop vom Juli 2015 hatte zwei Alternativen vorgeschlagen: einen Nulltarif für alle Fahrgäste und einen für alle Tübinger. Die erste Variante wird verfolgt.

Kosten würde der „Gratisbus“ 14,5 Millionen Euro im Jahr: 8,4 Millionen Euro durch die wegfallenden Ticket-Einnahmen und 6,1 Millionen Euro für eine Ausweitung des Angebots um ein Drittel (bessere Takte und mehr Busse). Bezahlen würde Palmer das am liebsten über eine Abgabe, die jeder Tübinger zu entrichten hätte, in Höhe von 13,50 Euro. Da solch eine Nahverkehrsabgabe rechtlich noch nicht – ein jüngst freigegebenes Gutachten des Landesverkehrsministeriums empfiehlt es als Option für Kommunen – zulässig ist, hat der OB vorgeschlagen: den Grundsteuer-Hebesatz um 30 Prozent anzuheben (ergibt 5 Millionen Euro), den der Gewerbesteuer um 10 Prozent (4 Millionen Euro), eine Übernachtungssteuer von 5 Prozent einzuführen (0,5 Millionen Euro) und Geld aus dem Vermögenshaushalt zu nehmen (5 Millionen Euro).

Zu riskant und ungerecht

Palmers Modell wurde zerrupft. Bernd Gugel (AL/Grüne) sagte: „Die Finanzierung ist nicht tragbar.“ Die Grundsteuererhöhung würde sich auf Mieten auswirken. Die Gewerbesteuer sei jetzt schon hoch. Und was sei, wenn die Einnahmen sänken? Die Bedenken äußerte auch Rudi Hurlebaus (CDU). Durch eine Grundsteuererhöhung würden die Mieten steigen, das sei sozial ungerecht, wandte Ernst Gumrich (Tübinger Liste) ein. Gerlinde Strasdeit (Linke) kritisierte die 5 Millionen Euro aus dem Vermögenshaushalt. Dietmar Schöning (FDP) hält die Rechnung für zu riskant. Steuereinnahmen könnten wieder sinken. Außerdem seien die Steuererhöhungen und Umschichtungen im Haushalt zu komplex für eine verständliche Fragestellung bei einer Bürgerbefragung, meinten Hurlebaus, Gumrich und Schöning.

Mehrere Stadträte zweifelten Palmers Berechnung einer Nahverkehrsabgabe an. Kinder und sozial Schwache müssten voll zahlen. Eine vierköpfige Familie käme auf einen Beitrag von 54 Euro im Monat. Würde man einzelne Gruppen befreien, stiege die Abgabe deutlich, rechnete Heinrich Schmanns (AL/Grüne) vor, ohne Kinder und Jugendliche auf fast 16 Euro. Gumrich rechnete mit 18 bis 20 Euro.

Auch den Erfolg eines ticketfreien Busverkehrs zweifelten viele Stadträte an. Gugel verwies auf die Einpendler als Hauptproblem auf Tübinger Straßen. Sie würde man mit dem Gratisangebot für Einwohner nicht erreichen. Gleichwohl ist seine Fraktion für einen ticketfreien Bus, wie im Wahlprogramm gefordert, sagte Fraktionssprecher Christoph Joachim. Offen zeigte sich die Tübinger Liste. Gumrich sagte nach langer Kritik an der Finanzierung: „Wir stehen dem ticketlosen Nahverkehr positiv gegenüber.“ Für die Linke sagte Strasdeit: „Wir unterstützen die Initiative für den ticketlosen Nahverkehr, aber die Finanzierung ist offen.“ Ingrid Fischer (CDU) dagegen sagte: „Das Ziel, dass Menschen aufs Auto verzichten, wird so nicht erreicht.“ Zudem würden Ausgaben von 14,5 Millionen Euro jährlich „die Stadtgesellschaft überfordern“. Schöning stellte in Frage, dass viele Bürger wegen des Preises auf den Bus umsteigen würden. Er plädierte als „drittes Modell“ neben den Anträgen von Palmer und SPD für eine schrittweise Lösung von Schwächen des Busverkehrs.

Kein einheitliches Bild ergab sich auch zur Bürgerbefragung. Die SPD ist für den 24. September. AL/Grüne, CDU und Tübinger Liste halten den Termin für zu früh. Die Grünen möchten das Thema als erstes für die beschlossene Befragungs-App nutzen, die CDU als zweites Thema. Die Flatrate-Bus-Vorkämpfer von ZAK3 warfen dem Gemeinderat gestern „Hasenfüßigkeit“ vor. Der Handel- und Gewerbeverein kritisierte die von Palmer geplanten Steuererhöhungen.

Die Alternative der SPD-Fraktion

Die SPD stellte einen eigenen Antrag. Er sieht vor: Halbierung der Ticketpreise („Jobticket für alle“), Nulltarif nach 19 Uhr und an Wochenenden sowie für Inhaber der KreisBonus Card. Die Kosten würden 6,1 Millionen Euro betragen (3,9 Millionen Euro Einnahmeausfälle und 2,2 Millionen Euro für mehre Busse). Martin Sökler (SPD) sagte, das Bus-Angebot sollte weiter ausgebaut werden. Da Mobilität auch eine soziale Frage sei, müsse beim Preis etwas getan werden. Doch: „Der große Wurf in einem Schritt überfordert uns alle.“ Die SPD sei für eine Evolution statt Revolution. Auch würden sich Fußgänger und Radfahrer fragen, warum sie bezahlen sollten. Palmer sagte zu, dass auch das SPD-Modell bei einer Befragung auf dem Zettel stünde.

Zum Dossier: Ticketfreier ÖPNV

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Erstellt:
29.04.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 21sec
zuletzt aktualisiert: 29.04.2017, 01:00 Uhr

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