Fischingen/Tübingen · Gesundheit

Voller Körpereinsatz für andere

Julian Klingenstein aus Fischingen ließ sich Stammzellen entnehmen, um einem fremden an Blutkrebs erkrankten Menschen das Leben zu retten. Der 22-jährige Student wirbt im Gespräch sowie in sozialen Medien um weitere Nachahmer.

24.03.2023

Von Cristina Priotto

Die Stammzellspende hat Julian Klingenstein ohne Probleme und nur mit leichten Rücken- und Kopfschmerzen überstanden. Die Prozedur dauerte zweieinhalb Stunden, der 22-Jährige las nebenher. Privatbild

Die Stammzellspende hat Julian Klingenstein ohne Probleme und nur mit leichten Rücken- und Kopfschmerzen überstanden. Die Prozedur dauerte zweieinhalb Stunden, der 22-Jährige las nebenher. Privatbild

Stammzellenspende Julian Klingenstein“ lautete das Betreff einer E-Mail, die mich am 11. März erreichte. Im ersten Moment durchfuhr mich ein gewaltiger Schrecken, dachte ich doch zunächst, der mir seit über zwölf Jahren bekannte junge Mann aus Fischingen benötige selbst eine Transplantation wegen Blutkrebs. Erleichtert und beeindruckt zugleich las ich, dass der mittlerweile 22-Jährige sich in der Universitätsklinik in Tübingen einer Stammzellentnahme unterziehen werde, um damit das Leben eines fremden Leukämie-Patienten zu retten.

Diesem bemerkenswerten großen Schritt war fünf Jahre zuvor ein eher kleiner Schritt vorausgegangen: 2018, Klingenstein war seinerzeit 16 Jahre jung, nahm der damalige Schüler des Sulzer Albeck-Gymnasiums an einer Typisierungsaktion der DKMS teil. Dabei wurde etwas Blut abgenommen, im Labor auf bestimmte Merkmale hin untersucht und diese Informationen in einer Datenbank gesammelt, um mit den Merkmalen von Leukämie-Patienten auf der ganzen Welt verglichen werden zu können. „Ich dachte, da kommt eh nie was“, erzählt Julian Klingenstein.

Anruf als „Match“ im November

Der Fischinger, der im örtlichen Musikverein Posaune spielt und sich als zweiter „Gut Klang“-Vorsitzender sowie stellvertretender Kreisjugendleiter beim Blasmusikkreisverband Rottweil-Tuttlingen engagiert, bei der Narrenzunft, den Pfadfindern und im Sportverein seines Heimatdorfs in der zweiten Mannschaft aktiv ist, schloss die Schule ab, absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Rettungsdienst in Rottweil und nahm ein Duales Studium in Technical Management an der DHBW Villingen-Schwenningen und bei Aesculap in Tuttlingen auf. Das rote Kärtchen der DKMS mit dem Aufdruck „Ich bin bereit, Leben zu retten“, begleitete den jungen Fischinger, ohne dass Julian Klingenstein noch oft daran dachte, in der Spenderdatei der DKMS registriert zu sein.

Ende November 2022 erhielt der 22-Jährige einen Anruf der DKMS, in der engeren Auswahl von drei bis fünf Leuten für eine an Leukämie erkrankte Person zu sein. Zwei Tage später ließ Klingenstein sich beim Betriebsarzt Blut abnehmen und schickte die Blutprobe nach Tübingen. Es folgten Wochen des Wartens und der Aufregung. Ende Januar erfuhr Julian Klingenstein, tatsächlich der am besten geeignete Stammzellspender zu sein, dessen genetische Merkmale am idealsten zum Empfänger passten. Als nächstes musste Klingenstein sich einem gründlichen Gesundheitscheck am Uniklinikum Tübingen unterziehen. Dabei wurde sichergestellt, dass der potenzielle Spender die gesundheitlichen Voraussetzungen aufweist, um zu spenden. Schließlich soll niemand sich durch die Bereitschaft zur Spende selbst schaden. „Das Personal im Krankenhaus und die DKMS-Leute haben mich sehr gut aufgeklärt und über die Stammzellspende informiert“, erzählt der Fischinger.

Eine Woche vor dem geplanten Entnahmetermin sollte Klingenstein auf Kontaktsportarten verzichten. Vier Tage vor dem Eingriff im Tübinger Uniklinikum begann Julian Klingenstein damit, sich täglich zwei Spritzen mit dem Wachstumsfaktor G-CSF in die Bauchfalte zu geben, die für eine vermehrte Bildung von Stammzellen und deren Ausschwemmung in die Blutbahn sorgen. Vor der Behandlung am 14. März war eine zusätzliche Injektion erforderlich. Die Utensilien bewahrt der junge Mann in einer Kaffeedose auf.

Für die periphere Stammzellspende, im medizinischen Fachjargon Apherese genannt, wurde der Lebensretter um 8 Uhr morgens an eine Art Dialysegerät mit Zugängen in beide Armvenen angeschlossen, über die die Stammzellen aus dem Blut herausgefiltert wurden. Da die Injektionen bei dem gesunden jungen Mann so gut angeschlagen hatten, dass Klingensteins Blut über 200 Stammzellen pro Mikrogramm Blut enthielt, dauerte die Prozedur anstatt der vorgesehenen fünf Stunden nur halb so lang.

Im selben Raum lag ein weiterer Stammzellspender. „Die Betreuung war top: Für jeden Patienten war eine Schwester da“, beschreibt Julian Klingenstein staunend die Pflegepersonalzahl. Bereits um elf Uhr konnte der 22-Jährige zurück nach Hause fahren.

Aufklärung per Instagram

Leichte Kopf- und Rückenschmerzen blieben als einzige Nebenwirkungen, klangen aber rasch ab. „Ich habe mich nicht beeinträchtigt gefühlt und am Tag danach schon wieder ganz normal auf die bevorstehenden Prüfungen gelernt“, berichtet der Technical-Management-Student. In einem Monat muss der Fischinger zum medizinischen Check-up bei seiner Hausärztin vorstellig werden, um zu untersuchen, ob die Stammzellentnahme zu Mangelerscheinungen geführt hat.

Bei der DKMS firmiert der junge Mann nun nicht nur als Lebensretter, sondern auch als Kontaktperson für potenzielle Spender mit Fragen zur Stammzellspende.

Über den Empfänger seiner mit vollem Körpereinsatz geleisteten Spende weiß Julian Klingenstein nur, dass dieser auf einem anderen Kontinent lebt. Anfangs dürfen die genetischen Zwillinge nur über eine Zwischenstelle kommunizieren. Zwei Jahre nach erfolgreicher Stammzellübertragung sind sogar Treffen möglich.

Der 22-Jährige hat festgestellt, dass im Umfeld und im Bekanntenkreis wenig über die periphere Stammzellspende bekannt ist, die einen Anteil von 80 Prozent ausmacht. Nur bei jeder fünften Spende wird Knochenmark aus dem Beckenkamm entnommen. Auf Instagram (@julian_klingenstein) schaltete Klingenstein einige Stories, um aufzuklären.

„Das war einer der bedeutsamsten Tage meines Lebens“, sagt Julian Klingenstein rückblickend über den 14. März. Was wäre, wenn der Student ein weiteres Mal als „Match“ für einen Blutkrebspatienten in Frage käme? „Wenn man mit so wenig Aufwand ohne größere Folgen und Mühen so verhältnismäßig viel erreichen kann wie Leben zu retten, bin ich da immer gerne bereit“, sagt der bescheidene Held.

Voller Körpereinsatz für andere

Weitere Informationen:

Die Deutsche gGmbH (DKMS,

ehemals Deutsche Knochenmarkspenderdatei) ist am 28. Mai 1991 gegründet worden. Die Organisation hat das Ziel, durch die Registrierung von Stammzellspendern weltweit
Leukämiepatienten mit der Stammzelltransplantation die Heilung zu

ermöglichen. Weltweit sind 11,5
Millionen Menschen als potenzielle Knochenmark- und Stammzellspender registriert. Über 100000 Spenden wurden bis Mai 2022 vermittelt.