Wintersport

Vom Deppen zum Champion

Vor dem Auftakt in Sölden fehlen Felix Neureuther nach Verletzungen noch Trainingstage im Schnee, dennoch steckt er voller Zuversicht.

07.10.2016

Von THOMAS GRUBER

Zielstrebig: Felix Neureuther wird zumindest die nächsten zwei Winter noch im Weltcup angreifen. Foto: dpa

Zielstrebig: Felix Neureuther wird zumindest die nächsten zwei Winter noch im Weltcup angreifen. Foto: dpa

Neureuther, du Depp!“ Was das Volumen seiner sonoren Stimme hergab, das brüllte Günther Hujara mit diesen drei Worten lauthals den schneebedeckten Hang von Kranjska Gora runter. Warum der Rennleiter des Weltskiverbandes am 4. Januar 2003 dermaßen außer sich war, bedarf einer Erklärung: Generell wird zwischen zwei Slalom-Läufen durch ein Pisten-Kommando die Strecke präpariert, da der Kurs für den zweiten Durchgang neu gesteckt werden muss. Und im besagten Kranjska Gora waren 73 Starter schon im Ziel. Das Zeitfenster zum zweiten Lauf war sehr knapp bemessen. Das Pisten-Kommando wartete bereits ungeduldig auf den Einsatz, ehe der vorletzte Slalom-Spezialist aus dem Starthäuschen herauspreschte: Felix Neureuther, gerade einmal 18 Lenze, gab mit Nummer 74 sein Weltcup-Debüt. Nach ihm sollte nur noch der Bulgare Georgi Georgiev sein Bestes versuchen.

Wild entschlossen, noch wilder unterwegs – so fetzte Felix los. Jedoch, nach wenigen Toren hebelte es den bayerischen Jungspund auf seiner Weltcup-Jungfernfahrt spektakulär aus, er mähte ein paar Torstangen um und riss den Fangzaun nieder. „Neureuther, du Depp“, schrie wie erwähnt Hujara, denn nun musste zeitaufwendig der Fangzaun repariert werden, die Torstangen neu verankert werden, einzig aus dem Grund, damit der Bulgare als Letzter fairerweise dieselben Bedingungen vorfindet wie 74 Teilnehmer vor ihm. „Ja, das war mein Start in den Weltcup“, erinnert sich Neureuther heute und schmunzelt dabei. Nur ein paar Wochen später nahm ihn der Deutsche Ski-Verband mit zur Ski-WM nach St.?Moritz. Bei einem aus deutscher Sicht insgesamt schwachen Championat in der Schweiz war Felix ein Lichtblick: Mit Laufbestzeit im zweiten Slalom-Durchgang preschte er von Platz 29 auf 15 vor.

„Irgendwie schließt sich jetzt der Kreis“, blickt Neureuther auf die nächste WM der Alpinen voraus, die vom 6. bis zum 19. Februar 2017 wieder in St. Moritz stattfinden wird. Das hört sich nach Karriere-Ende an, oder? Der 31-Jährige widerspricht vehement: „Abschiedstournee? Keinesfalls, aber man wird halt nachdenklicher“, sagt er und ergänzt: „Der sportliche Werdegang neigt sich ganz sicher langsam dem Ende entgegen.“

Gut zwei Wochen vor dem Weltcup-Start in Sölden fühlt sich der Techniker aus Garmisch-Partenkirchen gut: „Mein Niveau ist jetzt höher als im vergangenen Jahr.“ Eine Knie-Operation hat er ebenso überstanden wie die schon recht nervenden Rückenbeschwerden. „Es gibt noch viel Arbeit, die vor mir liegt“, weiß er und verweist auf fehlende Ski-Trainingstage, die aufzuholen seien, aber für die Haupt-Monate Dezember, Januar und Februar, da ist er zuversichtlich. „Sölden“, gibt Neureuther zu, „das ist nicht so wichtig. Da fahre ich voll aus dem Training heraus und ich probiere auch nicht, irgendwie zu zaubern, sondern ich werde mich gezielt auf die Hauptsaison vorbereiten.“

Die kleine Kristallkugel für den Gewinn der Slalom-Disziplin-Wertung – von dieser träumt er nach wie vor. „Die Möglichkeit dazu besteht absolut“, ist Neureuther überzeugt, „aber dann muss alles zu hundert Prozent zusammen passen. Ich traue mir das nach wie vor definitiv zu.“ Der Vize-Weltmeister von 2013 fühlt sich bereit für neue Großtaten und im Hinterkopf hat er nicht nur das WM-Jahr, sondern bereits 2018, wenn im südkoreanischen Pyeongchang die Olympischen Winterspiele stattfinden. Das Spektakel im Zeichen der fünf Ringe hat es ihm angetan. „Dreimal war ich schon dabei“, blickt der Bayer auf Turin 2006, Salt Lake City 2010 und Vancouver 2014 zurück und spricht von dem „riesigen Glück, das man als Sportler hat, dies alles erleben zu dürfen“. Insofern konnte er es überhaupt nicht verstehen, dass zahlreiche Superstars aus der Golf-Elite auf einen Start bei Olympia in Rio verzichtet hatten. Mit Deutschlands Top-Golfer Martin Kaymer hatte er darüber lange diskutiert. „Ich habe ihm ans Herz gelegt, dass er ins Olympische Dorf soll.“ Star-Status hin, Millionenverdienste her. „Er soll das olympische Flair genießen, aber nicht den Fokus aufs Wesentliche verlieren“, hatte Neureuther dem deutschen Vorzeige-Golfer mitgegeben. Die beiden kennen sich schon einige Zeit. „Ich durfte mit ihm auch schon mal Golfen“, erzählt Felix, dem ein Handicap 10 nachgesagt wird (das er aber nicht bestätigt). Im Gegenzug besucht Kaymer allwinterlich das Slalom-Ass beim Weltcup-Rennen in Alta Badia. „Da treffen wir uns immer zum Abendessen“, so Neureuther, der Kaymers Künste auf zwei Brettern lobt: „Er hat sich wahnsinnig gut angestellt für einen, der davor zehn Jahre lang nicht Ski gefahren ist.“

Wenn Neureuther über den anstehenden Winter spricht, da ist deutlich zu spüren, wie es bei ihm vorfreudig kribbelt. „Man weiß es zu schätzen, was man machen darf“, sagt er, „und man genießt es noch mehr.“ Der Genuss dürfte sicher intensiver sein, als beim legendären „Weltcup-Deppen-Debüt“ mit Startnummer 74. Dass er das Top-Niveau durch harte Arbeit und Zielstrebigkeit verdient hat, wer wollte da widersprechen?