Tübinger Kunsthalle

Vom Flüchtlingscamp ins Steuerparadies

Tübinger Kunsthalle macht mit der Schau „Kapitalströmung“ ein abstraktes Thema anschaulich.

15.03.2017

Von LENA GRUNDHUBER

Kunst-Installationen: Briefkästen ohne Firmen im Steuerparadies der Cayman-Inseln (Ausschnitt). Foto: Paolo Woods/Gabriele Galimberti

Kunst-Installationen: Briefkästen ohne Firmen im Steuerparadies der Cayman-Inseln (Ausschnitt). Foto: Paolo Woods/Gabriele Galimberti

Tübingen. Es ist mehr Rinnsal als Strom: Seit 31. Mai 2009 überweist die Aktionskünstlerin Christin Lahr jeden Tag genau einen Cent an das Finanzministerium, um den Schuldenberg abzubauen. In den Verwendungszweck schreibt sie jeweils 108 Zeichen aus Marx' „Kapital“. 43 Jahre wird es dauern, bis das ganze Werk auf dem Konto des Staates eingegangen sein wird, für einen Gegenwert von 15.709 Cent.

Eine freundlich subversive Geste, denn: „Kein Mensch kann verhindern, dass Geld auf sein Konto überwiesen wird“, meint Lahr spitzbübisch. Mit ihrer Installation, für die sie unter anderem den Stuhl des Tübinger OB Palmer geborgt hat, füllt sie den Titel der Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle auf ihre Weise: „Kapitalströmung“ heißt die Eröffnungsschau des nun sanierten und erweiterten Hauses.

Gesellschaftliche Relevanz will der neue Chef, Holger Kube Ventura, zeigen. Anschlussfähig wolle man sein – also auch anschaulich. Die Ausstellung, in der 13 Künstler über so abstrakte Themen wie Finanzmarkt und Wirtschaft reflektieren, kommt entsprechend bildgewaltig daher. Etwa mit Holger Wüsts 19 Meter langer Fotocollage. In ein Panoramabild des Markusplatzes hat Wüst ein verlassenes Flüchtlingscamp montiert, dessen Bewohner womöglich auf dem Kreuzfahrtschiff sind, welches – mit Marx als Galionsfigur – in die Szene ragt. „Ströme“ von Kreuzfahrttouristen, die ebenso unerwünscht sind wie die „Ströme“ von Flüchtlingen. Wohin sich jene flüchten, denen das Kapital gehört – oder nicht gehört –, dem sind Paolo Woods und Gabriele Galimberti nachgegangen. Drei Jahre lang haben sie „Steuerparadiese“ wie die Cayman-Inseln bereist und fotografiert. Dass es dort doppelt so viele Firmen wie Einwohner gibt, illustrieren sie wunderbar lakonisch: mit einem Foto von Wänden voller Briefkästen. Weitaus belebter zeigt sich Florian Haas' „Frankfurter Totentanz“, bevölkert von betriebsamen Skeletten. Die Gruppe „Superflex“ hat Modelle von Investmentbanken zu Blumentöpfen für Pflanzen mit halluzinogener Wirkung umfunktioniert, häufig auffallend phallisch von Gestalt.

Sind die fiktiven Geldscheine von Filip Markiewicz vor allem plakativ, findet sich im Winkel die kluge Arbeit von Ulrich Wüst. Er hat veraltete Banknoten aller Herren Länder vergrößert. Familien, Fabriken, Landleute sind darauf, Symbole des Gesellschaftsaufbaus, der Produktivität. Wer heute einen Euroschein betrachtet, wird Menschen dort vergeblich suchen. Lena Grundhuber

Info Bis 11. Juni, jeweils Mi bis So 11-18 Uhr, Di 11-19 Uhr.

Zum Artikel

Erstellt:
15.03.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 10sec
zuletzt aktualisiert: 15.03.2017, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!