Aach · Corona

Von der Seele geschrieben

„Zwölf unglaubliche Wochen im Seniorenheim“: Für Aachs Pfarrer Mergel ist es jetzt an der Zeit, Fehler und Missstände aufzuarbeiten.

19.09.2020

Von Annette Maria Rieger

Aachs Pfarrer Manfred Mergel las aus dem anonymen Tagebuch einer Betreuungskraft, in dem die Schreiberin aus einem Seniorenheim während der Corona-Pandemie berichtet. Bild: Annette Maria Rieger

Aachs Pfarrer Manfred Mergel las aus dem anonymen Tagebuch einer Betreuungskraft, in dem die Schreiberin aus einem Seniorenheim während der Corona-Pandemie berichtet. Bild: Annette Maria Rieger

Der Name der Verfasserin bleibt geheim. Auch die Einrichtung, in der sie als Betreuungskraft arbeitet, bleibt ungenannt. Zu groß ist die Angst der Frau vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen. „Allein das ist schon traurig“, leitete Pfarrer Manfred Mergel am Donnerstagabend eine Lesung von Auszügen aus dem Tagebuch im Aacher Gemeindehaus ein.

Von Kalenderwoche (KW) zu Kalenderwoche, aus der er in Auszügen vorträgt, überträgt sich die zunehmende Verzweiflung der Berichterstatterin eindrücklicher auf die Zuhörer.

Das Tagebuch beginnt am 5.März.

KW 10: Eine erste Handreichung der Mitarbeitervertretung macht die Runde, in der von Kurzarbeit, Freistellung, Zwangsquarantäne die Rede ist. Am 12. März gibt es im Nachbarlandkreis das erste Besuchsverbot. Angehörige der Bewohner sind „stinksauer“, drohen mit Strafanzeige.

KW 12: Alle Veranstaltungen sind abgesagt: Die Modenschau für die Senioren ebenso wie die Arbeitnehmer-Versammlung. Ab jetzt werden die Senioren nur noch nach Stockwerken getrennt versorgt. Besuche sind von einem Tag auf den anderen komplett verboten. Beim Aufhängen des Aushangs wird das Personal von Angehörigen beschimpft.

KW 13: Das Wetter ist gut, die Senioren sind viel auf der Terrasse – und können sich dort über den Gartenzaun mit ihren Familien unterhalten. „Wir tun alles, was wir können, damit die Bewohner zufrieden sind.“ Am Freitag wird die erste Kollegin positiv getestet. Jeder Pfleger soll durchgehend eine FFP2-Maske tragen, doch es gibt keine. Alle Bewohner sollen in ihren Zimmern bleiben. Den Demenzkranken, die einen großen Bewegungsdrang haben, ist das kaum zu vermitteln. Zusätzliche Dokumentationen und Schutzmaßnahmen sind während der regulären Dienstzeit kaum zu bewältigen. Die Betreuerin kommen am Wochenende für drei Stunden freiwillig ins Heim, um Zeit mit den Bewohnern zu verbringen, die oftmals nicht verstehen, weshalb niemand mehr kommt, die Familie fernbleibt. Eine Demenzkranke klettert über einen 1,20 Meter hohen Zaun nach draußen. Andere folgen ihr: „Man staunt, zu was sie fähig sind, obwohl sie sonst nur mit dem Rollator vorwärtskommen.“

Am 27. März erkrankt eine zweite Mitarbeiterin an Covid 19. Mit wem hat sie gearbeitet, wen könnte sie angesteckt haben? Die Vorgesetzte telefoniert stundenlang, um zu recherchieren und die Gefahr einzudämmen. Die Vorgesetzte arbeitet 14 Stunden am Tag. „Ich mache mir Sorgen um sie.“ Die Arbeitsmoral ist auf dem Tiefpunkt. Immer neue Regeln werden eingeführt: „Was morgens um 10Uhr noch Fakt ist, kann mittags schon hinfällig sein.“ Dann die Nachricht: Die Hausärztin ist infiziert. Bilder aus Italien machen die Runde. Die Bewohner ziehen Vergleiche mit ihren Kriegserinnerungen. Ein 94-Jähriger ist sich sicher: Jetzt verreckt das Geld.

KW 14: Der Virus ist im Haus. Drei Bewohner sind positiv getestet. Eine erste Angehörige will ihre Mutter abholen. Das Heim wird unter Quarantäne gestellt. Die Mitarbeiter dürfen nur noch zwischen Heim und Haus pendeln: „Jetzt werden wir auch noch dafür bestraft, dass wir hier arbeiten.“ Die Reaktionen von Nachbarn und Bekannten ärgern sie. „Geh bloß weg!“, heißt es. Ein Junge will nicht mehr mit ihrem Sohn joggen: „Deine Mutter arbeitet doch dort, wo sich alle anstecken.“ Das Klatschen als wertschätzende Geste für das Pflegepersonal kommt nicht gut an. Eine Kollegin schimpft: „Wenn noch Einer klatscht, klatsch ich ihm eine!“

Noch immer gibt es nicht genügend Masken. Deshalb soll jeder seine zum Abtrocknen in den Spind hängen und dann weiter benutzen. Fünf weitere Kollegen sind positiv. Jetzt werden alle getestet. Bewohner, die sich wehren, werden festgehalten. Ein 97-Jähriger stirbt „an Einsamkeit“. Jeden Tag war seine Tochter dagewesen, hatte mit ihm gegessen. Jetzt durfte sie nur noch durch die Balkontür winken.

KW 15: „Das Gesundheitsamt übernimmt das Kommando.“ Niemand darf das Zimmer verlassen, jeder muss mit seinen 16 Quadratmetern zurechtkommen. Bei der Tagebuchschreiberin kommen Zweifel auf: „Was sind schon 14 Tage Grippe gegen eine never ending Corona-Isolation? Ich kann die immer gleichen Angstmacher, die Virologen und Politiker nicht mehr sehen. Ein ganzes Volk zu entmündigen, halte ich für überzogen.“ Wegen der Personalnot behilft sich das Heim mit Zeitarbeitern aus Polen und Rumänen. Von denen spricht nur einer Deutsch. „Es ist katastrophal.“ Am Karsamstag beklagt sich eine ältere Dame bitterlich: Sie war im Krieg eingesperrt. Warum jetzt wieder? „Welches Recht habe ich, ihr zu verbieten, sich auf dem Flur mit ihrer Nachbarin zu unterhalten? Was verlangt die Regierung von uns? Das geht gegen meine Natur.“

Ostern – fällt aus.

Positiv getestete Senioren sind überfordert: Sie fühlen sich gesund und sollen laut Test plötzlich krank sein? Eine Bewohnerin will nicht länger allein auf dem Zimmer bleiben. „Lieber will ich sterben“, sagt die alte Dame. Die Tagebuchschreiberin notiert: „In diesem Moment hasse ich alle, die das angeordnet haben!“

Immer wieder müssen die Bewohner umziehen und das Stockwerk wechseln.

KW17: Die Verfasserin selbst ist positiv getestet. Bewohner im 1. OG weigern sich, auf den Zimmern zu bleiben. Senioren im 2. OG fühlen sich entmündigt, weil man sie bei den immer wiederkehrenden Tests festhält, bis das Wattestäbchen in die Nasennebenhöhle eingeführt ist und im Rachen steckt. „Das ist menschenunwürdig.“ Ihre Jungs daheim zocken von früh bis spät. Nachrichten mag die Verfasserin keine mehr sehen: „Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die Fernsehnachrichten gesteuert sind. Unsere Erfahrungen mit Corona sind so anders als das, was in den Medien dargestellt wird, dass ich mittlerweile ihnen gegenüber sehr misstrauisch bin.“

KW 18: „Wann darf mein Besuch kommen?“, ist die häufigste Frage der Bewohner. Eine Kollegin kündigt, weil sie ihre Familie nicht gefährden will. Als die Bewohner in Grüppchen zusammen stehen, fährt der Hausarzt vor. Schnell bewegen sich alle auseinander: „Sogar die Bewohner haben begriffen, dass wir überwacht werden.“ Etliche sind infiziert, aber nicht krank und völlig symptomfrei. Sie bilanziert: „Fünf unserer zehn Corona-Toten starben an dem Virus, zwei hatten die Lust am Leben verloren und starben an Einsamkeit, zwei hatten Krebs und eine hat nicht genug getrunken.“ Ihr graust: „Wie unwürdig dieses Sterben ist!“ Es gibt keine Zeit für den Abschied, keine Ruhe, kein Händehalten.

KW 19: „Jetzt spüren wir die Überlastung.“ Die Verfasserin ist müde von den „Belehrungen des Gesundheitsamts, der Bevormundung durch das Robert-Koch-Institut“, ist auch enttäuscht von Kirche und Seelsorgern: „Die können sich ihre frommen Worte sparen.“

Als Pfarrer Mergel mit den letzten Eintragungen Ende Mai endet, ist es still im Raum. Beklemmung ist zu spüren. Unter den etwa 16Zuhörern sind Fachkräfte sowie Ehrenamtliche in der Altenpflege und dem Hospiz. Sie finden sich und ihren eigenen Kummer in dem Erfahrungsbericht wieder, so sagen sie. Den Tränen nahe sagt eine Altenpflegerin: „Genau so war’s.“

Beim Austausch über das Gehörte wird eine tiefe Betroffenheit deutlich, die der Text auslöst. Der Kostenfaktor in Pflegeeinrichtungen kommt zur Sprache. Eine Pflegefachkraft berichtet von Kolleginnen, die abends noch kellnern, weil das Geld nicht reicht.

Pfarrer Mergel hält eine höhere Entlohnung für unabdingbar. Zudem fordert er: „Wir brauchen eine Gesamtschau auf die Kollateralschäden in dieser Zeit. Wir müssen jetzt aufarbeiten, was Menschen an den Rand des Ertragbaren gebracht hat.“ Zu gewissen Fehlentscheidungen, die sich jetzt im Nachhinein erkennen ließen, sei eine Entschuldigung von politischen Entscheidungsträgern angebracht. Als Theologe wisse er: „Niemand kommt ohne Sünde durch’s Leben. Wir werden immer schuldig und machen Fehler. Das gehört zur Menschlichkeit. Doch jetzt kommt es darauf an, wie wir mit unseren Fehlern umgehen.“ Und da vermisse er eine gewisse Fehlerfreundlichkeit: „Jetzt einfach weiterzuwursteln ist nicht gut.“

Pfarrer Manfred Mergel

Manfred Mergel ist seit 2004 evangelischer Pfarrer in Aach und als Mundartprediger über den Landkreis hinaus bekannt. Der 61-Jährige kennt die Verfasserin des Tagebuchs persönlich. Für ihn ist bei der Aufarbeitung der belastenden Erlebnisse vieler Menschen in Pflegeeinrichtungen wichtig: „Es geht nicht um Vorwürfe. Doch wir brauchen den Diskurs über solche Themen. Sonst läuft alles auf eine Spaltung der Gesellschaft hinaus.“

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Erstellt:
19.09.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 02sec
zuletzt aktualisiert: 19.09.2020, 01:00 Uhr

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