Am Mittwoch startet das Filmfest Cine Latino

Wahlkampf mit Thriller-Qualität

Das Tübinger Traditionsfestival Cine Latino zeigt vom 19. bis zum 26. April mit Kuba als Schwerpunkt mehr als 40 Filme aus Lateinamerika und Spanien.

17.04.2017

Von Klaus-Peter Eichele

Cine Latino goes Marokko: Im Abenteuerfilm „Mimosas“ unternehmen ein Priester und zwei Halunken eine Reise durchs Atlasgebirge .

Cine Latino goes Marokko: Im Abenteuerfilm „Mimosas“ unternehmen ein Priester und zwei Halunken eine Reise durchs Atlasgebirge .

2003 wurde einer chilenischen Richterin das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen, weil sie in einer homosexuellen Beziehung lebte. Eine gesunde Erziehung der Minderjährigen sei bei einer lesbischen Mutter nicht gewährleistet, entschieden die obersten Richter des südamerikanischen Landes. Das Skandalurteil inspirierte die Regisseurin Pepa San Martin zu ihrem Film „Rara“ (Seltsam), mit dem am Mittwoch, 19. April (20 Uhr im Kino Museum), das Tübinger Filmfest Cine Latino eröffnet wird. Der Film schildert die Ereignisse aus Sicht der zwölfjährigen Tochter, der allmählich bewusst wird, dass die Umwelt ihre Familie als nicht so normal wahrnimmt wie sie selbst.

Politisches wird privat und Privates politisch – das ist in gewisser Weise eine Spezialität des lateinamerikanischen Kinos. Tübinger Cineasten wissen das seit gut einem Vierteljahrhundert, denn so lange versorgt das von Paulo de Carvalho gegründete und immer noch geleitete Cine Latino (samt seinen Vorgängern) das hiesige Publikum mit Filmstoff aus dieser Region. Seit 14 Jahren hat das Festival auch eine Spanien-Sektion. Nach dem Boom im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, mit dem Oscar für den Politthriller „In ihren Augen“ als Höhepunkt, ist es ums lateinamerikanische Kino zwar merklich ruhiger geworden; nur noch wenige Filme aus Brasilien, Argentinien oder Mexiko finden den Weg in die deutschen Kinos. In der Unistadt erfreuen sie sich dagegen nach wie vor großer Beliebtheit; Jahr für Jahr gehen vier- bis fünftausend Zuschauer in die Festivalvorstellungen. Diesmal stehen bis zum 26. April 26 lange und 16 kurze Filme aus zehn Ländern auf dem Spielplan.

Wie es sich für ein Festival gehört, werden etliche Filmschaffende ihre Werke persönlich in Tübingen vorstellen. Aus Brasilien kommt Vincent Carelli, der mit seinem Dokumentarfilm „Martirio“ dem Kampf einer indigenen Volksgruppe gegen den Raub ihres Landes ein Denkmal setzt. Widerstand gegen die Herrschenden ist auch das Markenzeichen von Ada Colau, einer linken Aktivistin gegen Zwangsräumungen, die 2015 überraschend zur Bürgermeisterin von Barcelona gewählt wurde. Festivalgast Pau Faus hat sie im Wahlkampf mit der Kamera begleitet; sein Dokumentarfilm „Alcaldessa“ schaut sich laut Festival-Organisatorin Pola Hahn so spannend wie ein Thriller. Sowohl der Brasilianer Carelli als auch der Katalane Pau lassen sich während des Festivals bei Werkstattgesprächen im Brechtbau intensiv aushorchen.

Eine Reihe weiterer Dokumentarfilme widmet sich dem Thema Migration. So präsentiert der deutsche Genre-Altmeister Peter Heller seine Langzeit-Studie „Life Saaraba Illegal“ über zwei Brüder, die – mit unterschiedlichem Erfolg – aus dem Senegal ins gelobte Europa aufbrechen. Heller kommt auch zu einer Podiumsdiskussion über Flucht und deren Ursachen am Sonntag, 23. April, um 18 Uhr ins Kino Museum.

Der regionale Schwerpunkt des Cine Latino liegt in diesem Jahr auf Kuba, wo die Öffnung des Landes auch im Kino einiges in Bewegung gesetzt hat. De Carvalho und sein Team haben drei lange und ein halbes Dutzend Kurzfilme ausgewählt, in denen jeweils jüngere Regisseure den politischen Wandel reflektieren oder auch vorwegnehmen. Die ohne staatliche Unterstützung gedrehten Filme fassen heiße Eisen wie Transsexualität („Vestido de novia“) oder den Traum von der unternehmerischen Selbständigkeit („Venecia“) an. Als Gast von der Insel kommt der Regisseur Carlos Quintela. In seinem essayistischen Spielfilm „La obra del siglo“ wird die Ruine des zu Sowjet-Zeiten geplanten, aber niemals vollendeten kubanischen Atomkraftwerks zum Sinnbild von Utopie und Wirklichkeit der Revolution.

Das restliche Spielfilm-Programm bietet eine bunte Mischung für nahezu jede Vorliebe. Das Spektrum reicht von der turbulenten kolumbianischen Komödie, in der sich ein Pfarrer und seine Gemeinde wegen der Bestattung eines Selbstmörders in die Haare kriegen („El soborno del cielo“), bis zum meditativen Stummfilm über einen Einsiedler in den Pyrenäen („El perdido“). Mit der spanischen Produktion „Mimosas“ ist sogar eine Art Western – am Schauplatz des marokkanischen Atlas-Gebirges – im Programm.

Wie in den vergangenen Jahren zieht das Cine Latino auch wieder aus den Kinosälen des Museums hinaus in die Stadt. Am Donnerstag werden in der obere Haaggasse unter freiem Himmel mexikanische Kurzfilme gezeigt. Am Freitag gibt es in diversen Tübinger Kneipen ein Best of vom spanischen Kurzfilmfest Alcine und am Samstag im Vorfeld der Festivalparty im Schlachthaus Musikclips aus Lateinamerika.