Tübingen · Frühgeschichte

Was die Zähne verraten

Kann man Erbgutanalysen ersetzen, indem man die Struktur und Form von Schädelknochen studiert? Tübinger Forscher halten das für möglich.

27.08.2023

Von ST

Schädel aus einer archäologischen Fundstätte. Bild: Osteologische Sammlung der Universität Tübingen

Schädel aus einer archäologischen Fundstätte. Bild: Osteologische Sammlung der Universität Tübingen

Erbgutanalysen menschlicher Knochen stoßen an Grenzen, wenn etwa die DNA schlecht erhalten ist oder die Proben nicht zerstört werden dürfen. In solchen Fällen können auch Vergleiche der Struktur und Form bestimmter Teile des Skeletts detaillierte Informationen über Verwandtschaftsverhältnisse liefern, und zwar zerstörungsfrei. Das hat eine großangelegte Studie eines internationalen Forschungsteams unter der Leitung von Hannes Rathmann und Prof. Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment und dem Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Tübingen ergeben.

Geprüft wurde mithilfe computergestützter Verfahren in den größten verfügbaren Datenbeständen, inwieweit sich die weltweite genetische Verschiedenheit oder Diversität von Menschen in der Struktur und Form, der sogenannten Morphologie, unterschiedlicher Skelettelemente widerspiegelt. Die besten Ergebnisse erzielte das Team bei Vergleichen bestimmter Elemente im Gebiss und am Schädel, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung. Die neuen Ergebnisse können in archäologischen und forensischen Untersuchungen genutzt werden, wenn DNA-Analysen nicht möglich sind.

Die Morphologie des menschlichen Skeletts ist hochvariabel und unterscheidet sich weltweit sowohl zwischen Individuen wie auch zwischen Populationen. Diese Verschiedenheit entwickelte sich infolge komplexer Wechselwirkungen verschiedener evolutionärer Kräfte über einen langen Zeitraum. „Evolutionsbiologen teilen diese Kräfte in zwei unterschiedliche Prozesse auf. Ein neutraler Prozess bezeichnet den Vorgang, bei dem Mutationen neue Diversität hervorbringen, die den betroffenen Individuen keine direkten Vor- oder Nachteile bietet. Diese neue Diversität vermehrt oder verliert sich dann zufällig durch die sogenannte Gendrift innerhalb einer Population“, erklärt Hannes Rathmann. „Demgegenüber stehen nicht-neutrale Prozesse, die beispielsweise den Vorgang bezeichnen, bei dem Mutationen sich auf die Fitness eines Individuums auswirken. Die betroffenen Individuen können sich dann entweder besser oder schlechter an Umweltfaktoren anpassen.“

Um detaillierte Rückschlüsse auf Verwandtschaftsverhältnisse zu ziehen, so der Wissenschaftler, sollten ausschließlich Skelettelemente verwendet werden, die sich durch neutrale Prozesse entwickelten.

Das Team konzentrierte sich in der Studie auf Gebiss und Schädel, deren Strukturen als vorherrschend durch neutrale Prozesse entwickelt gelten. „Entgegen früherer Annahmen geben nicht alle Merkmale im Gebiss und am Schädel den zugrundeliegenden genetischen Code verlässlich wieder, einige eignen sich viel besser als andere“, berichtet Rathmann.

Als besonders geeignet erwiesen sich kleinere morphologische Merkmale an den Zähnen, wie Rillenmuster in den Kronen, die Anzahl und Größe der Höcker, die Form der Wurzeln und die An- oder Abwesenheit von Weisheitszähnen. „Die besten Ergebnisse, fast nahezu identisch mit einer klassischen genetischen Verwandtschaftsanalyse, erzielten wir jedoch, wenn wir alle Merkmale von Schädel und Gebiss in integrierter Form einbezogen“, berichtet er.

Katerina Harvati fügt hinzu: „Die Ergebnisse erweitern unser Verständnis über die Ursprünge der menschlichen Skelettdiversität. Sie sind auch vielversprechend für die Anwendung in archäologischen und forensischen Untersuchungen.“ Erbgutanalysen seien häufig nur sehr eingeschränkt möglich, wenn die DNA schlecht erhalten ist. Das sei häufig der Fall bei sehr alten Knochen oder solchen, die einem warmen Klima ausgesetzt waren. Auch müssten die Knochen für DNA-Analysen beschädigt werden, was bei brüchigem Material oder seltenen Funden oft nicht in Frage komme.

„In solchen Fällen ist die zerstörungsfreie Untersuchung von Schädel und Gebiss eine wertvolle Alternative, um beispielsweise vergangene Bevölkerungsgeschichte oder die menschliche Abstammung in archäologischen Zusammenhängen zu rekonstruieren oder Verwandtschaftsprofile in der Forensik zu erstellen“, sagte Harvati.

Die Form der Dinge verstehen

Morphologie ist die Lehre von der Struktur und Form von Dingen, sei es in der Natur, in der Sprache oder in anderen Bereichen. Wenn man über Morphologie spricht, betrachtet man, wie etwas aufgebaut ist und wie seine Teile zusammenwirken, um eine bestimmte Gestalt oder Bedeutung zu erzeugen. In der Biologie untersucht die Morphologie die äußere Form von Lebewesen und wie ihre verschiedenen Körperteile angeordnet sind. Insgesamt geht es bei der Morphologie darum, die Bausteine und die Anordnung von Teilen zu verstehen, um die Eigenschaften und Bedeutungen von Dingen zu analysieren.

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Erstellt:
27.08.2023, 17:24 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 27.08.2023, 17:24 Uhr

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