Stadtführung zur Frauengeschichte

Die Rote Marie stand vor Gericht

1848/1968In Tübingen schrieben Frauen Revolutionsgedichte und Ulrike Meinhoff sprach über die Befreiung der Frau. Zum Abschluss der „Tübinger Revolten“-Ausstellung gab es eine Stadtführung zur Frauengeschichte .

04.06.2018

Von Miri Watson

Am Tübinger Marktplatz lebte einst die „Rote Marie“, wie Beate Dörr und Elmira Detscher (Mitte) bei der Frauen-Stadtführung am Samstag berichteten. Bild: Faden

Am Tübinger Marktplatz lebte einst die „Rote Marie“, wie Beate Dörr und Elmira Detscher (Mitte) bei der Frauen-Stadtführung am Samstag berichteten. Bild: Faden

Was haben die Tübinger Frauen eigentlich in den Revolutions-Jahren 1848 und 1968 gemacht? Selbst für Beate Dörr und Elmira Detscher vom Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs (BAF) war das gar nicht so leicht herauszufinden – obwohl die Tübinger Revolten in diesen Jahren in der gleichnamigen Sonderausstellung, die bis gestern im Stadtmuseum zu sehen war, gut aufgearbeitet worden sind. Das, was Dörr und Detscher aber über aktive Tübingerinnen in den Revolutions-Jahren herausgefunden haben, stellten sie gut 25 Interessierten bei einer kostenlosen Stadtführung unter dem Titel „Tübinger Revolten aus Frauenperspektive(n)“ am Samstagnachmittag vor.

„Ganz oft fängt Frauengeschichte mit dem Engagement von Frauen an, die sagen: Es kann doch nicht sein, dass diese Frau vergessen wird“, so Dörr, die als Fachreferentin zu Frauen und Politik in der Landeszentrale für politische Bildung arbeitet. So waren es nicht etwa Wissenschaftler/innen, sondern die Altenpflegerin Hella Mohr, die sich als erste intensiv mit dem literarischen Nachlass von Marie Kurz, der so genannten „roten Marie“, beschäftigte.

Marie Kurz, die in ihrer Tübinger Zeit zuerst im heutigen Epplehaus und später dann am Marktplatz im dem Gebäude lebte, in dem heute das Ranitzky ist, war nicht nur Mutter der bekannten Schriftstellerin Isolde Kurz und Ehefrau des gleichnamigen Dichters Herrmann, sondern auch selbst als Dichterin aktiv. „Es kümmerte sie herzlich wenig, was die Leute von ihr dachten“, sagte Dörr: So kleidete Kurz, deren Tochter sie später als „eine Kommunistin der besonderen Art“ bezeichnete, sich trotz Adelsabstammung als einfaches Bauernmädchen, war strenge Vegetarierin und veröffentlichte im Jahr 1948 als 22-Jährige in der „Esslinger Schnellpost“ ein Revolutionsgedicht. Fünf Jahre später musste sie sich wegen eines anderen Gedichtes sogar vor Gericht verantworten, wurde aber freigesprochen – wahrscheinlich spielte dabei eine Rolle, dass sie zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war. „Marie Kurz war eine der großen württembergischen Demokratinnen“, so Dörr bei der Führung.

Auch Emilie Uhland, die den meisten wohl hauptsächlich als Frau von Ludwig Uhland bekannt ist, machte sich zur Zeit der Revolten im 19. Jahrhundert Gedanken zur Politik. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Die neue Zeit will mir noch wie ein Traum erscheinen. Dass Männer aus dem Volk und nicht die alten Machthaber die Staatszügel führen sollen, ist für uns lenksame Deutsche eine so neue Erscheinung!“.

Vom Marktplatz ging die Führung weiter zur Haaggasse und vom Jahr 1848 direkt in die Jahre nach 1968. Oberhalb vom Rathaus erzählte Detscher, inwiefern der Kampf um den Abtreibungsparagrafen 218 verschiedenste Frauen in den 1970er-Jahren mobilisierte: „Beim Begriff ‚Frauenbewegung‘ könnte man ja denken, dass damit alle Frauen gemeint wären, aber es gab auch damals viele Frauen, die mit den Zielen der Bewegung nichts zu tun haben wollten“, so Detscher. „Das Besondere am Kampf um den Paragraf 218 war: Er einte alle.“ So seien in den Frauengruppen, die zu dem Thema arbeiteten, nicht nur linke Frauen aktiv gewesen, sondern auch Arbeiterinnen und Hausfrauen. Und obwohl sie nicht direkt von dem Thema betroffen waren, hätten sich lesbisch lebende Frauen ebenfalls solidarisiert.

Doch auch zu anderen Themen organisierten sich in den folgenden Jahren die Tübinger Frauen: Ab 1972 trafen sich in der Schwärzlocher Straße verschiedene Gruppen im Tübinger Frauenzentrum, das 1975 in die eigenen Räume in der Haaggasse 34 umzog. „Das Zentrum wollte und sollte einen Ort bieten für die autonom agierenden Frauengruppen“, sagte Detscher.

Müttergruppen trafen sich dort, Lesbengruppen, Gruppen, die zum Paragraf 218 arbeiteten, aber auch anderweitig politisch aktive Frauengruppen, etwa die Buchladengruppe, die vor der Gründung des heute noch existierenden Frauenbuchladens Thalestris auch die „Tübinger Frauenblätter“ herausgab. „Im Grunde ist das Frauenzentrum die Wiege von ganz vielen Tübinger Frauengruppen“, so die Studentin Detscher. Eine Zeitzeugin, die an der Führung teilnahm, erzählte die folgende Anekdote: „Als wir da einzogen ins Frauenzentrum, bekamen wir einen Brief von der Stadtverwaltung. Er begann mit den Worten ‚Sehr geehrte Herren ...‘“.

Vor dem Club Voltaire erinnerten Detscher und Dörr daran, dass dort ab 1980 fast zwanzig Jahre lang jede Woche eine Frauendisco stattfand. „Das gemeinsame Feiern und sich gut fühlen gehörte genauso dazu, wie das gemeinsam unzufrieden zu sein, demonstrieren und lernen“, sagte Detscher.

An der Alten Aula kamen die BAF-Expertinnen dann noch auf die Studentenbewegung zu sprechen. „Die Studentenbewegung ist in der Erinnerung klar an männliche Führungspositionen geknüpft“, sagte Detscher. Dennoch sei die Anzahl der Frauen in der Bewegung proportional zur damaligen Anzahl der Frauen an den Universitäten gewesen.

Im Tübinger Kontext war besonders eine Rede interessant, die Ulrike Meinhoff 1969 wahrscheinlich im Clubhaus zur Befreiung der Frau hielt. Dieser Vortrag hatte einen Sturm auf den Arbeitskreis Emanzipation zur Folge. Denn: „Auch in der Studentenbewegung gab es den Konflikt zwischen Männern als Führenden und Frauen an den Schreibmaschinen“, so Detscher. Zumindest etwas konnte die Frauenbewegung an diesem Ungleichgewicht rütteln.

Wie das BAF mit der Geschichte verknüpft ist

Ohne das Frauenzentrum in der Haaggasse 34 wäre es 1987 vielleicht nie zur Gründung des Bildungszentrums und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württemberg (BAF) gekommen. Schließlich erwuchs die Idee, das Archiv zu gründen, auch daraus, dass nach der Schließung des Frauenzentrums zahlreiche Dokumente, die Tübinger Frauengeschichte belegten, „in irgendwelchen Kellern verstaubten“, wie Bea Dörr bei der Führung sagte.

Insbesondere die „Frauenblätter“ und die Flugblätter der Frauenakademie, die eine autonome Frauenuniversität zu gründen anstrebte, belegen gut, wie lebendig die Frauenbewegung auch in Tübingen war.

Zum Dossier: 1848 / 1968

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Erstellt:
04.06.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 04.06.2018, 01:00 Uhr

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