Medizin · Wie ein echtes Paulchen

Weltneuheit: Der größtenteils aus TAGBLATT-Spenden finanzierte Frühchen-Simulator wurde vorgestellt

Dieses kleine Wesen wiegt 1000 Gramm und ist 35 Zentimeter lang. Im Inneren ist es hochtechnisch und dennoch hyperrealistisch ausgestattet. Äußerlich entspricht es einem sehr zarten Baby mit feinen zerzausten Härchen. Es handelt sich um die teuerste Babypuppe Tübingens. „Paul“, „der Kleine“, nannte ihn sein Hersteller. In der Tübinger Neonatologie machte man ihn sogar noch kleiner und taufte ihn liebevoll „Paulchen“.

12.04.2017

Von Ulla Steuernagel

Sieht aus wie echt, ist aber eine Inszenierung: Die Erstversorgung eines zwölf Wochen zu früh auf die Welt gekommenen Babys. Kinderarzt Dr. Ingo Müller-Hansen (rechts) erklärte am Mittwochnachmittag im Hörsaal der Frauenklinik dem Publikum die Arbeit am Baby-Simulator. Bild: Metz

Sieht aus wie echt, ist aber eine Inszenierung: Die Erstversorgung eines zwölf Wochen zu früh auf die Welt gekommenen Babys. Kinderarzt Dr. Ingo Müller-Hansen (rechts) erklärte am Mittwochnachmittag im Hörsaal der Frauenklinik dem Publikum die Arbeit am Baby-Simulator. Bild: Metz

„Paulchen“ kostete rund 60 000 Euro, das Geld kam weitgehend aus Spenden der TAGBLATT-Leser bei der letzten Weihnachtsaktion zusammen. Es hilft nun Kinderärztinnen, -ärzten und Pflegepersonal den Ernst- und Stressfall zu simulieren: Ein Kind kommt zu früh auf die Welt und in den ersten Minuten entscheidet sich, ob es eine Chance hat zu überleben und ob es die Klinik gesund verlassen kann. „Es ist ein maximal denkbares Stresslevel“, so der Neonatologe Dr. Rangmar Goelz. Das Wissen darum, dass sie für wenige Minuten die komplette Verantwortung für das junge Leben tragen, führt auch bei erfahrenen Ärzten und erfahrenem Personal zu äußerster Anspannung. Mittlerweile retten die Mediziner sogar Frühchen, die nur ein Drittel von Paulchen auf die Waage bringen. Das sind umgerechnet dreieinhalb Tafeln Schokolade, „der Kopf hat die Größe eines kleinen Apfels“, verglich Goelz. Ein Arzt hat es hier mit „mikrofeinen Venen“ von nur einem halben Millimeter Durchmesser zu tun, die muss er treffen.

Sich auf eine solche Notfallsituation vorbereiten, sie üben zu können, entscheidet über Leben und Tod. „Mit Paulchen haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, dies zu trainieren.“ Die Mediziner nahmen sich ein Beispiel an den Piloten: Die arbeiten schon längst im Simulator.

Die Wiener Firma Sim-Characters entwickelte ihre Frühchen-Puppe seit 2010. Die ersten beiden Modelle wurden nun an die Kinderkliniken Lübeck und Tübingen geliefert. „Ich würde am liebsten jeden Paul verschenken“, so Kinderarzt Dr. Jens-Christian Schwindt von der Herstellerfirma. Doch dazu seien die Entwicklungskosten zu hoch. Er hofft, dass der Simulator in Zukunft nicht mehr nur über Spenden angeschafft werden muss, sondern einmal zur Standardausstattung der Kliniken gehören wird.

Groß war gestern Nachmittag im Hörsaal der Frauenklinik jedenfalls das Interesse der Medien, der Klinikmitarbeiter/innen und der Spender, dazu zählen auch der Verein „Lichtblick“ und „Dachtel hilft kranken Kindern“.

Bei Paulchens offizieller Vorstellung wurde eine Notfallsituation inszeniert: Ein Kind kommt per Kaiserschnitt und zwölf Wochen zu früh auf die Welt. Nun braucht das Baby Atemunterstützung, es wird ihm eine Maske zur Zufuhr konditionierter (warmer und feuchter) Luft angelegt. Währenddessen wird sein schnell schlagendes Herz und die Sauerstoffkonzentration im Blut überwacht. Ein Zugang wird gelegt und die Blutwerte bestimmt. Hätte es zu wenig Sauerstoff bekommen, wäre es blau angelaufen. Stattdessen sind plötzlich die ersten Babyschreie zu hören. Das Team hat alles richtig gemacht, Paulchen scheint überm Berg. Das echte Frühchen käme nun auf die Intensivstation zur weiteren Überwachung.

In der Praxis wird zunächst die gewünschte Notfallsituation für Paulchen programmiert, dann die Arbeit am Simulator aufgezeichnet und schließlich im Team besprochen.

Wie wichtig Schnelligkeit und Geistesgegenwart im Notfall sind, das machte Goelz am Beispiel einer jungen Ärztin deutlich, die bei einer Geburt ein schneeweiß geborenes, völlig ausgeblutetes Kind vor sich hatte. Was tun, wenn keinerlei Blutgefäße zu sehen sind? Die junge Ärztin wusste es, weil sie es kurz zuvor geübt hatte. Sie gab dem Kind die lebensrettende Infusion durch den Knochen des Schienbeins. „Dem Kind“, so Goelz, „ging es zügig besser.“

„Paulchen“, die echteste Babypuppe Tübingens. Bild: Metz

„Paulchen“, die echteste Babypuppe Tübingens. Bild: Metz

Mehr Risikogeburten

Jedes Jahr kommen rund 120 Frühgeborene in der Klinik zur Welt. Durch das höhere Alter der Mütter und die steigende Zahl der künstlichen Befruchtungen nimmt die Zahl der Risikogeburten zu.

Warum ist Paulchen kein Mädchen? Der Grund ist, unter den Frühgeborenen gibt es mehr männliche Babys, und männliche Babys tun sich mit dem Überleben auch schwerer als weibliche. In Wien arbeitet man aber auch schon an einem weiblichen Frühchen-Simulator.