Horb · Sexismus

Wenn „Männerwelten“ immer wieder Grenzen überschreiten

Frauen wie Linda Hiller aus Bildechingen erleben tagtäglich Anzüglichkeiten und Übergriffe. Die Frauenhilfe bietet Hilfe und fordert zur Sensibilisierung auf. In einer Umfrage auf Instagram melden sich zahlreiche Betroffene aus dem Netzwerk unseres Autors zu Wort.

04.06.2020

Von Luis Schneiderhan

Linda Hiller aus Bildechingen will Anzüglichkeiten, die sie auf ihr Äußeres reduzieren, nicht länger einfach hinnehmen. Bild: Luis Schneiderhan

Linda Hiller aus Bildechingen will Anzüglichkeiten, die sie auf ihr Äußeres reduzieren, nicht länger einfach hinnehmen. Bild: Luis Schneiderhan

Für Martina Sillmann vom Verein Frauenhilfe Freudenstadt ist eine öffentliche Debatte über Sexismus mehr als angebracht. Zu viele Frauen erleben diesen alltäglich.

Eine von ihnen ist Linda Hiller aus Bildechingen. Die 20-Jährige studiert Medien- und Kommunikationsmanagement – und spricht offen darüber, in welche ebenso unangenehme wie unangebrachte Situationen sie immer wieder gerät, nur weil sie eine Frau ist.

Ein 15-minütiges Video von
Joko und Klaas, zwei Comedians mit eigener Fernsehshow auf ProSieben, thematisiert dieses Thema und geht damit viral. Als Linda das Video anschaut, kommen ihr fast die Tränen: Eine Mischung aus Wut und Trauer, aber auch Erleichterung, dass endlich jemand anspricht, was sie immer wieder bedrückt.

Das Video beginnt mit billigen Animationen von Bildern, grellen Farben und schrillen Soundeffekten. Dann wird es plötzlich dunkel und still. Eine leere Halle ist zu sehen und die Autorin Sophie Passmann tritt ins Bild: „Willkommen zur Ausstellung von Männerwelten.“

„Schwanzbildkunst“

Die ersten „Exponate“ dieser Ausstellung handelt von sogenannten Dickpics, also Bilder von erigierten Penissen, die Frauen ungefragt zugestellt bekommen. Auch Linda empfängt „relativ regelmäßig“ solche Werke von anonymen Künstlern: „Es ist immer das gleiche Schema. Ich bekomme anonym Bilder auf Snapchat zugeschickt. Dann weiß ich meist schon: Es ist so ein Bild.“Was sie fühlt, wenn sie solche Bilder sieht? „Nichts. Weil es schon wieder passiert. Im Prinzip ist es keine große Sache, weil viele so etwas zugeschickt bekommen. Aber genau das geht eigentlich überhaupt nicht.“ Ihren unbekannten Schwanzbildkünstler fragt sie rhetorisch: „Im Ernst, was erwartest du, wenn du mir so etwas schickst?“. Laut Paragraf 184 Strafgesetzbuch ist das Versenden von Dickpics strafbar. Linda würde ein solches Bild definitiv zur Anzeige bringen, wenn sie den Urheber kennen würde.

Bei Posts von Frauen im Internet sind im Schnitt 16 von 100 Kommentaren sexistisch. Linda kommt das bekannt vor. Auch sie selbst bekam schon Anfragen zugesendet wie „Bock auf Schwanz?“.

Belästigung im Alltag

„Es gehört zum Alltag von Frauen, dass manche Situationen für sie unangenehmer sind als für Männer“, so Passmann im Video. Linda kann davon ein Lied, wahrscheinlich ein ganzes Album, singen. Die Frage sei nicht, ob, sondern wie oft sie schon so etwas erlebt habe.

Männer hupen sie im Vorbeifahren an, pfeifen ihr auf der Straße und noch häufiger im Club oder auf Festivals hinterher, rufen ihr Obszönitäten nach: „Das ist nichts Konstruktives, nichts was man als Kompliment verstehen könnte.“ Sie empfindet dergleichen nicht als Bestätigung, sondern zweifelt dann an sich selbst: „Mein Kleidungsstil ist nicht so freizügig. Trotzdem schaut man dann an sich runter und fragt sich: ‚Habe ich zu viel Ausschnitt?‘“.

Im Laufe des Gesprächs fallen Linda weitere Geschichten ein, die sie erlebt und zunächst wohl verdrängt hatte. Beispielsweise von ihrem Tätowierer, mit dem sie – eigentlich aus Höflichkeit – auch noch einige Zeit nach dem Termin Nachrichten tauschte. Als er ihr dann plötzlich schrieb: „I want to make love with you“ (zu Deutsch: Ich möchte mit Dir schlafen) und sie abblockte, schrieb er im Kontext: „Fick dich, ich brauche dein Geld nicht, lass dir das Tattoo in Zukunft woanders stechen“. Zwar habe er sich irgendwann dafür entschuldigt, trotzdem wird Linda für ihr nächstes Tattoo wohl ein anderes Studio aufsuchen.

Werbung als Problem

Nur 20 Prozent der Vergewaltigungen, die bei der Polizei angezeigt werden, spielen sich „überfallartig“ in der Öffentlichkeit ab. Überwiegend finden Vergewaltigungen dort statt, wo Mädchen und Frauen sich sicher fühlen sollten – im gewohnten Umfeld, am Arbeitsplatz oder in der eigenen Wohnung.Martina Sillmann vom Vorstand der Frauenhilfe Freudenstadt gibt gewaltbetroffenen Frauen eine Stimme, die ihre über die Jahre in häuslicher Gewalt verloren haben. In Sexismus sieht die frühere Kriminalbeamtin ein Problem, das über die Jahrtausende gewachsen ist: „Sexismus hat mit Machtverhältnissen zu tun. Ich kann der Frau an den Po fassen, weil ich weiß, dass es gesellschaftlich gedeckelt wird und sich die Frau nicht wehrt.“ Sie rät daher bei jeglicher Form von Belästigung sofort zur sichtbaren und lauten Konfrontation. „Viele Betroffene, die das erlebt haben, fühlen sich im Nachhinein schuldig, weil sie sich in dem Moment nicht wehren konnten“, erklärt Sillmann. Auch Werbung suggeriere, Frauen seien eine Ware: „Zum Beispiel bei Automessen, wenn Frauen als Dekoration neben ein Auto gestellt wurden.“

Outfit als Ausrede

Oft wird das Outfit der Betroffenen als Ausrede für den Mann genutzt, als ob der Kleidungsstil einer Frau darüber entscheide, ob sich Männer „beherrschen“ können oder nicht.

Linda lässt sich davon nicht beeindrucken. Selbstsicher sagt sie: „Ich ziehe an, was ich möchte und wann ich es möchte.“ Trotzdem bleibt die Vorsicht ein ständiger Begleiter: Wenn es dunkel ist, telefoniert Linda auf dem Weg nach Hause häufig mit Freunden, ihrer Familie oder mit dem Heimwegtelefon (siehe Infokasten), um sich sicherer zu fühlen.

In ihrem Zimmer liegen drei Pfefferspraydosen, die sie allerdings nur zu Städtetrips mitnimmt. „Theoretisch kenne ich ein paar Schläge zur Selbstverteidigung.“ Ob sie die in der Situation anwenden könne, wisse sie nicht. „Oftmals überlege ich auch, ob ich schreien könnte, wenn ich gerade erkältet bin“, so die Gedanken der jungen Frau.

Was sich ändern sollte

„Es müsste viel mehr öffentlich gemacht werden“, erklärt Tina Sillmann. Werbung dürfe Frauen nicht länger als Objekte darstellen. Ebenso sei eine Sensibilisierung in der Ausdrucksweise wichtig: „Durch eine männerdominierte Sprache werden diese Rollenklischees weiter zementiert.“

Auch Linda findet, dass zu dem Thema weiterhin mehr Aufmerksamkeit generiert werden muss: „Das Thema ist jetzt endlich auf dem Tisch und ich will es da so schnell auch nicht mehr runter“, betont die junge Frau.

Hilfe für Betroffene

Frauenhilfe Freudenstadt: Telefon 0 74 41/ 5 20 30 70 (Montag bis

Freitag 10 bis 12 Uhr oder nach

Vereinbarung), E-Mail an

info@frauenhilfe-fds.de

Hilfetelefon- Gewalt gegen

Frauen: 08 00/0 11 60 16.

Weitere Hilfsangebote in der

Nähe: www.frauen-gegen-

gewalt.de

Heimwegtelefon: 0 30/12 07 41 82 (Freitag und Samstag 22 bis 3 Uhr; Sonntag bis Donnerstag 20 bis

24 Uhr)

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Erstellt:
04.06.2020, 14:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 01sec
zuletzt aktualisiert: 04.06.2020, 14:00 Uhr

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