Horb · Gast des Monats

„Wenn, dann kann ich höchstens Kanzlerin“

Im Interview mit der SÜDWEST PRESSE spricht SPD-Chefin Saskia Esken über die Verantwortung ihrer Partei für den Aufstieg der AfD, über das Verhältnis zur Linken und die Gefahr, die von Rechtsterroristen in Deutschland ausgeht.

22.02.2020

Von Philipp Koebnik

Will die SPD wieder auf 30 Prozent bringen: die Co-Parteivorsitzende Saskia Esken. Bild: Karl-Heinz Kuball

Will die SPD wieder auf 30 Prozent bringen: die Co-Parteivorsitzende Saskia Esken. Bild: Karl-Heinz Kuball

Vor zehn Wochen wurden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans auf einem Parteitag zum neuen Führungsduo der SPD gewählt. Vorausgegangen war eine Abstimmung der Mitglieder. Esken sitzt seit 2013 im Bundestag. In ihr neues Amt als Parteivorsitzende kam sie durchaus überraschend – bundesweit war sie zuvor wenig bekannt. Die SÜDWEST PRESSE sprach mit der 58-Jährigen über die Lage der SPD und aktuelle politische Fragen.

SÜDWEST PRESSE: Frau Esken, was hat sich in der SPD verändert, seit Sie zur Vorsitzenden gewählt wurden? In Umfragen dümpelt die SPD immer noch bei 13 bis 14 Prozent.

Saskia Esken: In der letzten Umfrage, die ich gesehen habe, lagen wir bei 16 Prozent. Ich will aber gar nicht so etwas wie den Schulz-Hype erzeugen. Ich bin aber durchaus davon überzeugt, dass es in der Bevölkerung für die gesellschaftlichen Ideen der SPD ein Potenzial von 30 Prozent gibt. Die Leute sehnen sich nach Gerechtigkeit, nach Solidarität, nach Zusammenhalt. Diese Neuorientierung geht nicht mit Fingerschnippen, sondern ist ein längerer Prozess – mit einem klaren sozialdemokratischen Kurs.

Wie läuft es in den Gremien?

Im neuen Präsidium und im Parteivorstand erleben wir es als sehr positiv, dass es eine enge Kommunikation und gute Absprachen gibt, auch mit den Regierungsmitgliedern und mit der Fraktion. Ein starkes Beispiel war die Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen. Insgesamt haben wir eine gute Arbeitsteilung gefunden im engeren Team, also im Präsidium, da ist wirklich viel Kompetenz und viel Engagement vertreten. Unsere Sitzungen sind vom Miteinander und vom guten Dialog geprägt. Einige Mitbewerber um den Parteivorsitz sind im Parteivorstand vertreten, und Klara Geywitz wurde zu einer unserer Stellvertreter gewählt.

Spüren Sie Rückhalt aus der Parteibasis?
Immerhin ist Ihr Ergebnis bei der Stichwahl im November mit 53,1 Prozent recht knapp ausgefallen.

Wir hatten während der Bewerbung sehr viel gute Rückmeldung bekommen, weit über hunderttausend Mitglieder haben sich für uns entschieden, und deren Unterstützung spüren wir jeden Tag. Mittlerweile sind wir vom Parteitag mit großer Mehrheit gewählt, die Zusammenarbeit mit den Regierungsmitgliedern, der Fraktion und mit den Landesverbänden und Landesregierungen ist sehr eng. Bei der Parteibasis wiederum kommt unsere Kommunikation gut an, wir suchen neue Wege und pflegen einen neuen Stil.

Wie viele Twitter-Follower haben Sie seit der Wahl hinzugewonnen?

Ich hatte vor der Kandidatur 7000 Follower, was für eine einfache Abgeordnete nicht schlecht ist. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich dort sehr dialogbereit bin, auch bei kontroversen Meinungsäußerungen, und nicht nur „Mitteilungen“ verschicke. Inzwischen sind es fast 50 000 Follower, aber leider kann ich nun nicht mehr ganz so intensiv twittern. Das hat mit meiner beschränkten Zeit, aber leider auch mit den vielen Trollen zu tun, die da mittlerweile unterwegs sind. Da verliert man leicht den Überblick und sieht die ernstgemeinten Kommentare und Fragen gar nicht mehr.

Auf kommunaler Ebene wird immer wieder heftig über neue Gewerbegebiete diskutiert. Gibt es einen Widerspruch zwischen Naturschutz und Wirtschaftsinteressen?

Eine der wichtigsten Aufgaben der Politik ist es, zwischen scheinbar widersprüchlichen Interessen auszugleichen. Gerade bei Infrastrukturprojekten ist es wichtig, dass die Planer die kommunalen Gremien und die Bevölkerung frühzeitig einbeziehen. Wir sind alle auf eine gesunde Natur und Umwelt angewiesen. Wenn Eingriffe in die Natur dann unvermeidbar, aber vertretbar erscheinen, dann muss ein guter Ausgleich geschaffen werden. Wenn auf kommunalen Flächen Windräder gebaut werden, gibt es auch Pachteinnahmen, über deren Verwendung man mit der Bevölkerung debattieren kann. Wenn die Menschen sich konstruktiv einbringen können, wenn sie etwas bewirken können, dann fühlen sie sich auch als Teil des Ganzen. Ein Teil der Bevölkerung hat sich leider mittlerweile aus der konstruktiven Debatte zurückgezogen. Es ist für uns alle, für die kommunale Ebene, für Vereine oder Kirchen und auch für uns Parteien, eine große Aufgabe, diese Menschen wieder zu erreichen und wieder einzubeziehen.

Trägt die SPD nicht eine große Mitverantwortung dafür, dass Menschen sich enttäuscht abwenden? Es war eine SPD-geführte Regierung, die den Spitzensteuersatz massiv gesenkt, Leiharbeit und „Hartz IV“ eingeführt sowie einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen hat. Und eine GroKo hat die Mehrwertsteuer erhöht, was besonders Menschen mit geringem Einkommen betrifft.

In der Wirtschaftswissenschaft, in den Medien, in der Politik grassierte damals der neoliberale Zeitgeist, der solche Fehlentwicklungen hervorgebracht hat. Nur der schlanke Staat ist ein guter Staat, hieß es, also wurde privatisiert auf Teufel komm raus, und alles andere hat man dem Diktat der Kostenrechnung unterworfen, alles musste sich rechnen: die Gesundheit, die Bildung, der Sozialstaat. Menschen rechnen sich aber oft nicht! Wir in der SPD haben mittlerweile gut verstanden, was das mit der Gesellschaft gemacht hat, das Ergebnis ist eine massive Entsolidarisierung: Jeder ist sich selbst der Nächste. Eine Trendwende ist bitter nötig. Deshalb haben wir mit unserem Sozialstaatskonzept beim Bundesparteitag im Dezember auch eine Abkehr von „Hartz IV“ beschlossen.

Wie glaubwürdig ist das? Das Grundrentenmodell der SPD würde für die Betroffenen bedeuten, dass ihre Rente – nach Abzug des Pflege- und Krankenversicherungsbeitrags – etwa 10 bis 60 Euro über der Grundsicherung läge. Ist das nicht ein Tropfen auf den heißen Stein?

Und wie viele ältere Menschen beantragen die Grundsicherung gar nicht, weil man dafür zum Sozialamt muss? Wer sie beantragt, muss sich „nackig machen“ und zunächst sein Erspartes aufbrauchen. Es geht uns daher um einen Systemwechsel für die, die lange Jahre gearbeitet, Kinder betreut oder Angehörige gepflegt haben. Die erhalten jetzt mit der Grundrente einen Anspruch an die Rentenversicherung. Das ist Ausdruck des Respekts vor der Lebensleistung eines Menschen. Klar ist aber auch: Damit die Menschen aus ihren Erwerbseinkommen eine armutsfeste Rente erwirtschaften können, müssen vor allem die Löhne steigen. Deshalb wollen wir, dass starke Tariflöhne wieder überall gelten, und dass für die, die das nicht erreicht, der Mindestlohn auf 12 Euro steigt.

Allerdings war es die SPD, die das Mindestlohngesetz seinerzeit so gestaltet hat, dass nicht die Politik die Höhe des Mindestlohns festsetzt, sondern eine sogenannte Expertenkommission.

In der Mindestlohnkommission sind die Tarifpartner paritätisch vertreten, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und das ist im Grunde auch richtig so. Sie hat den Auftrag, den Mindestlohn in einer Gesamtbetrachtung so festzulegen, dass er einen Mindestschutz darstellt. Leider schöpft die Kommission ihren gesetzlichen Rahmen derzeit nicht aus. Im Mai soll es eine neue Entscheidung geben, im Herbst wird das Gesetz evaluiert. Dann werden wir sehen, ob wir den gesetzlichen Auftrag schärfer formulieren müssen. Die SPD will ihren Beitrag leisten, um das Land zusammenzuhalten, um wieder mehr Solidarität und Gemeinsinn herzustellen. Es geht um gerechte Chancen und einen gerechten Anteil am Wohlstand. Die Einkommen müssen gerecht sein, und jeder und jede muss über Steuern den Beitrag zum Gemeinwohl leisten, der seiner oder ihrer Leistungsfähigkeit entspricht. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Teilhabe am öffentlichen Leben für alle möglich und für alle leistbar ist. Deshalb sind wir gegen Kita-Gebühren und für bezahlbare Mieten. Ein gutes Instrument kann auch ein 365-Euro-Jahresticket für den ÖPNV sein.

Können Sie Kanzler?

Wenn, dann kann ich höchstens Kanzlerin. Aber im Ernst: Die SPD hat natürlich den Anspruch, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen, und für die Kanzlerkandidatur haben die Parteivorsitzenden das Vorschlagsrecht. Ich habe aber nicht für den SPD-Vorsitz kandidiert, um Kanzlerin zu werden, sondern weil ich meinen Beitrag leisten wollte, dass es mit meiner Partei wieder aufwärtsgeht.

Die Frage war aber, ob Sie sich dieses Amt
zutrauen.

Ich habe in meinem bisherigen Leben die Erfahrung gemacht, dass man an seinen Aufgaben wächst. Aber ich brüte nicht über ungelegte Eier.

Nach den Ereignissen von Thüringen und dem angekündigten Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer („AKK“) ist die CDU angeschlagen. Was bedeutet das für die SPD?

Wir haben kein Interesse an einer geschwächten CDU, auch kein taktisches. Wir brauchen in Deutschland die beiden starken Volksparteien, die unterscheidbare, alternative Politikangebote machen, konservativ auf der einen und progressiv auf der anderen Seite. Die sogenannte „Alternative für Deutschland“ bietet überhaupt keine Alternative, sondern nur Scheinlösungen. Am Ende trägt sie das Gift von Rassismus, Hass und Hetze in unsere Gesellschaft und spaltet unser Land.

Waren Sie überrascht vom Abstimmungsverhalten von CDU und FDP bei der Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen?

Ich war richtig entsetzt. Empört war ich darüber, dass es wohl im Vorfeld Absprachen für dieses Abstimmungsverhalten gab. Und aus welchen Richtungen dann nach der Wahl der Jubel kam, also etwa von FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Offensichtlich war man von einem einzigen Ziel getrieben, nämlich einen Ministerpräsidenten Ramelow zu verhindern. Dabei genießt Bodo Ramelow die Zustimmung einer großen Mehrheit der Bevölkerung in Thüringen. Man muss sich das mal vorstellen: Um Rot-Rot-Grün in Thüringen zu verhindern, haben CDU und FDP einen Deal mit der AfD gemacht. Mit der faschistischen AfD eines Björn Höcke, genau gesagt. Und dass in Thüringen, wo die NSDAP erstmals 1924 Einfluss erlangte, indem sie eine bürgerliche Minderheitsregierung von Vorgängerparteien von CDU und FDP tolerierte. Das ist gefährlich geschichtsvergessen.

Was sagt der Rücktritt von AKK über die
politische Kultur in Deutschland?

Das sagt allenfalls etwas über die CDU aus. Es ist AKK zum Schluss nicht mehr gelungen, die Enden in ihrer Partei zusammenzuhalten. Und sie konnte sich in Thüringen nicht durchsetzen. Der Grundkonsens der Demokraten, nicht mit Faschisten zusammenzuarbeiten, wurde infrage gestellt. Das ist derzeit die wichtigste Frage für die CDU – und die weitere Entwicklung in dieser Frage ist auch entscheidend für den Fortbestand der GroKo.

Was sagen Sie jenen, die davor warnen, sich derart von der AfD abzugrenzen, dass diese sich in der Opferrolle präsentiert?

Die AfD ist keine Partei der Opfer. Der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier spricht davon, in Deutschland ausmisten oder aufräumen zu wollen, und damit meint er Menschen. Menschen, die anderer Meinung sind zum Beispiel. Der Landesvorsitzende und Fraktionsvorsitzende der AfD Brandenburg, Andreas Kalbitz, hat gesagt: „Wir werden auf ihren Gräbern tanzen.“ Die AfD führt schwarze Listen mit den Namen kritischer Journalisten und betreibt Melde-Portale, wo Schüler und Eltern missliebige Lehrkräfte melden können. Kurzum, die AfD ist eine Partei der Täter. Und die Tatsache, dass sie demokratisch gewählt werden, macht sie noch lange nicht zu Demokraten. Im Gegenteil: Mit Antidemokraten und Faschisten darf es keinerlei Zusammenarbeit geben. Es ist eine ganz andere Frage, wie man den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern wieder herstellt, die diesen Rattenfängern aufgesessen sind. Die Leute kann man nicht ausschließen.

Die CDU grenzt sich, zumindest verbal,
gleichermaßen von AfD wie der Partei Die Linke ab. Ein Fehler?

Es gibt einen klaren Parteitagsbeschluss dazu, das ist nicht nur verbal. Man kann die beiden Parteien aber nicht auf eine Stufe stellen. Die AfD ist definitiv eine antidemokratische Partei. Die Linkspartei hat in den vergangenen Jahren eine beachtliche Entwicklung gemacht. Die SPD hat seit 2013 den Beschluss, dass wir eine Zusammenarbeit mit der Linken nach Sachlage entscheiden. Ob Thüringen oder Berlin: Wo die Linkspartei mitregiert, wird ziemlich pragmatisch Politik gemacht für die Menschen. Dem Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU liegt ja die sogenannte Hufeisentheorie zugrunde, wonach Links und Rechts als gleichermaßen gefährliche Ränder des politischen Spektrums gelten. Das halte ich für einen Fehler.

Erst vor wenigen Tagen wurden zwölf verdächtige Rechtsterroristen und Unterstützer in Untersuchungshaft genommen. Wie groß ist die Gefahr, die von Rechts droht?

Die Sicherheitsbehörden und auch die konservative Politik hat die Gefahr von rechts lange unterschätzt oder gar negiert. So wurden die rechtsextremen Hintergründe der Morde des NSU lange ausgeblendet. Stattdessen wurde im Umfeld der Opfer ermittelt, es war von „Dönermorden“ die Rede. Dass ein Herr Maaßen nicht mehr Präsident des Bundesverfassungsschutzes ist, hat da viel verändert. Der neue Präsident, Thomas Haldenwang, hat den Rechtsterrorismus in den Fokus genommen, und das ist auch dringend notwendig. Alte und neue Nazis, die sogenannten Reichsbürger und andere Gruppen sind bestens vernetzt. Wachsamkeit und Aufklärung sind dringender denn je, das zeigen die NSU-Morde, das zeigt der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag von Halle oder jetzt die entsetzliche Tat von Hanau. „Wehret den Anfängen“, das war gestern. Wir stecken mittendrin. Wir müssen als Gesellschaft gegen diese Rattenfänger zusammenstehen!

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Erstellt:
22.02.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 7min 17sec
zuletzt aktualisiert: 22.02.2020, 01:00 Uhr

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