Mit Antikörpern gegen Kopfweh

Wichtige Informationen über Migräne gab‘s beim Gesundheitstag von Uniklinikum und TAGBLATT

Wer über Kopfschmerzen redet, kommt fast unweigerlich auf Migräne. Eine Krankheit, die viele Frauen und auch manche Männer peinigt und die Ärzten immer noch Rätsel aufgibt. Beim Gesundheitstag von Uniklinikum und TAGBLATT am Dienstagabend im Sparkassen Carré gab es ein reges Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Zuhörern und Experten. Wir dokumentieren hier die wichtigsten Infos.

25.11.2016

Von Ulla Steuernagel

MIGRÄNEFORSCHER bei der Migräneforschung. Zeichnung Buchegger

MIGRÄNEFORSCHER bei der Migräneforschung. Zeichnung Buchegger

Neurologe oder Hausarzt, an wen sollte sich ein Patient mit häufig auftretenden Kopfschmerzen wenden?

Erste Anlaufstelle sollte der Hausarzt sein, der kann bei Bedarf zum Neurologen überweisen, auch andere Fachärzte können für die Ursachenerforschung wichtig sein. In schwierigen Fällen ist eine Vorstellung in einer speziellen Kopfschmerzambulanz sinnvoll, so wie das UKT sie anbietet. Patienten mit chronischen täglichen Kopfschmerzen oder einer chronischen Migräne sollten durch ein interdisziplinäres Behandlungsteam betreut werden, das Neurologen, aber auch Schmerztherapeuten umfassen sollte. Wenn die ambulante Behandlung nicht erfolgreich ist, kommt in ausgewählten Fällen auch ein stationärer Klinikaufenthalt in Frage.

Was sind Kopfschmerzen eigentlich?

Wie alle Schmerzen können sie zunächst einmal ein Warnsignal des Körpers sein. Sie können also auf andere, harmlose bis gefährliche Erkrankungen hindeuten. In diesem Fall spricht man von sekundären oder symptomatischen Kopfschmerzen. Die meisten Kopfschmerzen, die in Form regelmäßiger Attacken auftreten, gehören hingegen zur Gruppe der primären Kopfschmerzen. Ein wichtiges Beispiel ist etwa die Migräne, sie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen.

Wodurch wird die Migräne ausgelöst?

Das Gehirn bringt eine genetische Veranlagung für Migräne mit, aber auch Umweltfaktoren spielen eine wichtige Rolle. Migräne hat jedenfalls eine klare organische Ursache, sie ist keine eingebildete Krankheit.

Was passiert bei einer Migräne-Attacke im Kopf?

So ganz genau weiß man das noch nicht. Bei Migräne-Patienten reagiert das Gehirn überempfindlich auf Reize. In der Schmerzattacke setzt das Gehirn im Bereich der Hirnhäute in der Nähe von Blutgefäßen Entzündungsstoffe frei. Diese Schmerzsignale senden die Nervenzellen über den Trigeminusnerv – mit ihm werden wichtige Teile des Gesichts und des Kopfes versorgt – an den Hirnstamm und das Gehirn. Wie und wo der Patient den Schmerz empfindet, das kann individuell sehr unterschiedlich sein.

Welche Anzeichen stehen für Migräne?

Die meisten fühlen einen starken, pochenden, oft einseitigen Kopfschmerz, der von 4 bis 72 Stunden dauern kann. Die Betroffenen sind ruhebedürftig, Bewegungen verstärken den Schmerz. Hinzukommen Übelkeit, Erbrechen oder Überempfindlichkeit gegen Lärm oder Licht. Bei etwa einem Drittel der Patienten beginnt eine Attacke mit flackernden Sehstörungen, die durch das Gesichtsfeld wandern, den Aura-Symptomen. Diese können eine halbe bis Stunde andauern. Die Symptome können in verschiedenen Kombinationen auftreten. Jeder Patient kennt einen eigenen Rhythmus und Ablauf der Symptome.

Wann spricht man von chronischer Migräne?

Wenn der Patient über ein Vierteljahr an mindestens 15 Tagen pro Monat unter Kopfschmerzen und davon an acht Tagen unter Migräne leidet.

Wie viele Menschen leiden eigentlich unter Migräne?

Etwa 15 Prozent aller Erwachsenen haben schon Migräne-Attacken erlebt. Frauen sind weit häufiger betroffen als Männer, von denen 5 bis 8 Prozent zu Migräne neigen. Weshalb das so ist, hat die Forschung noch nicht abschließend herausgefunden, ein wichtiger Grund sind die Hormone. Oft tritt die Migräne erstmals in der Pubertät auf. Aber auch Kinder klagen schon darüber.

Viele Patienten haben Angst, dass sich hinter ihren Kopfschmerzen eine schlimmere Krankheit verbirgt. Ist die Angst berechtigt?

Statistisch gesehen sind die primären Kopfschmerzen sehr viel wahrscheinlicher, sie liegen in bis zu 90 Prozent der Fälle vor, vor allem bei wiederkehrenden Attacken. In zehn Prozent steckt eine andere Erkrankung dahinter. Von den 221 837 Einwohnern im Landkreis Tübingen dürften rein rechnerisch zwischen 26 500 und 53 000 Frauen und 13 000 bis 17 700 Männer an Migräne-Kopfschmerzen leiden. Ein guter Ratschlag an die Betroffenen ist: sich zum Experten in eigener Sache zu machen. Informieren kann man sich über Kontakt zu Selbsthilfegruppen, aber auch im Internet bei der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (www.dmkg.de).

Auf welche Warnsignale gilt es zu achten?

Ein wichtiges Warnsignal ist etwa ein plötzlich von einer Sekunde auf die nächste auftretender „Donnerschlag-Kopfschmerz“, der auf eine potenziell lebensbedrohliche Blutung aus einer geplatzten Gefäßaussackung im Gehirn hinweisen kann. Ein Alarmzeichen sind auch Kopfschmerzen mit Fieber und Nackensteifigkeit, die durch eine Hirnhautentzündung verursacht sein können. In solchen Fällen ist eine unverzügliche ärztliche Vorstellung erforderlich.

Haben Migräne-Patienten ein erhöhtes Schlaganfallrisiko?

Nach wissenschaftlichen Studien an sehr großen Patientengruppen ist statistisch tatsächlich von einem leicht erhöhten Risiko auszugehen. Dies gilt vor allem für Patientinnen mit Migräne mit Aura, insbesondere wenn sie rauchen oder die Pille nehmen. In absoluten Zahlen ist die Risikoerhöhung aber gering, und Patienten sollten nicht unnötig verunsichert werden. Wichtig ist eine gute Beratung und eine optimale Einstellung klassischer Risikofaktoren für Gefäßerkrankungen wie hoher Blutdruck oder Übergewicht.

Zu den Triggern, also Auslösern von Migräne, werden neben Stress, Wetter, zu wenig Schlaf, zu wenig Nahrung, zu viel Alkohol, Rotwein, Schokolade, Käse oder Zitrusfrüchte genannt. Man kann die Reihe der Verdächtigen lange fortsetzen, aber welche sind nun die wirklich Schuldigen?

Es gibt viele Möglichkeiten und wenige Beweise. Man kann sich Migräne wie ein Fass vorstellen, wenn es überläuft, dann gibt es eine Migräne-Attacke. Aber womit sich das Fass füllt, das ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Und die Analyse wird noch schwieriger, weil sich im Laufe des Lebens die Auslöser auch ändern können. Wer seinen persönlichen Trigger zuverlässig kennt, der sollte ihn natürlich meiden.

Wie ernst muss man die vielen Trigger-Warnungen dann überhaupt nehmen?

Man sollte sich nicht zu sehr einschränken. Oft führt der Versuch, möglichst viele Trigger zu identifizieren und auszuschalten, zu viel Anspannung und Stress, was die Erkrankung eher verschlechtern kann. Es ist zudem nicht einmal unwahrscheinlich, dass ein heftiges Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln wie etwa Schokolade schon zur Attacke gehört und fälschlicherweise nachträglich als Trigger wahrgenommen wird.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es bei Migräne?

Der erste Schritt ist die akute Schmerzbehandlung. Bei einer Schmerzattacke helfen normale Schmerzmittel, Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen und Triptane, also spezielle Migräne-Medikamente, die die Serotonin-Rezeptoren stimulieren und die Übererregtheit der Nervenzellen regulieren. Die Schmerzmittel sollten aber nicht mehr als an bis zu maximal 10 Tagen im Monat genommen werden, sonst erzielt man eine paradoxe Wirkung, den sogenannten „Übergebrauchskopfschmerz“. Wichtig ist das Führen eines Tagebuchs oder Kopfschmerzkalenders, und bei häufigen Attacken muss eine vorbeugende Behandlung überlegt werden: hierzu gehören ein regelmäßiger Lebensstil, Entspannungstechniken und ausreichend körperliche Aktivität. Wenn bei hoher Attackenhäufigkeit damit keine Besserung erreicht wird, dann kommt eine medikamentöse Behandlung in Frage: Diese reicht von Betablockern bis hin zu Antiepileptika und Antidepressiva, damit lässt sich die Übererregbarkeit des Migräne-Gehirns herabsetzen. Am Klinikum gibt es eine Kopfschmerzambulanz, die individuell abgestimmte Hilfe bietet. Man sollte jedoch eine ärztliche Diagnose und auch ein bisschen Geduld mitbringen, denn Termine sind hier nicht sofort zu haben.

Gibt es neue Therapieansätze?

Ja, die Forschung setzt auf einige neue Methoden: wissenschaftlich intensiv untersucht wird die elektrische Stimulation des sogenannten Vagus-Nervs, die zur Behandlung akuter Attacken, aber auch vorbeugend angewendet werden kann. Speziell bei Patienten mit chronischer Migräne kann die Injektion von Botulinumtoxin A (dem „Faltengift“ Botox) helfen. Große Hoffnung setzt die Forschung vor allem auf CGRP-Blocker, Antikörper, die die Migräne auslösenden Botenstoffe abfangen und neutralisieren. Sie werden ins Unterhautfettgewebe gespritzt und derzeit in verschiedenen klinischen Studien erprobt.

Welche nicht-medikamentöse Schmerztherapien können helfen?

Am Uniklinikum werden Patienten mit chronischen Schmerzen aller Art, die schon länger als sechs Monate anhalten, auch in der allgemeinen Schmerzambulanz multimodal therapiert. Das heißt, hier werden neben pharmakologischer auch Physio- und Ergotherapie, Kälte- und Wärmebehandlung, Muskelentspannung über Stromimpulse (TENS), Biofeedback, Kinesiotaping angeboten. Außerdem werden Entspannungstechniken und Stressbewältigungsstrategien vermittelt. Wenn der Schmerz auch nicht immer völlig verschwindet, der Patient lernt, besser damit umzugehen. Nach der Devise: Lerne im Regen zu tanzen!

Bleiben nach starken Attacken mit neurologischen Aussetzern und Wortfindungsstörungen irreversible Schäden zurück?

In der Regel sind die Schäden reversibel. Nur beim sehr seltenen migränösen Infarkt können Schäden zurückbleiben.

Oft sind Migräneanfälle mit der Menstruation gekoppelt. Wird in dieser Richtung geforscht?

Hormone gehören zu den Haupttriggern. Speziell in der perimenstruellen Phase klagen viele Frauen über Migräne. Das hat mit dem abfallenden Hormonspiegel in diesem Zeitraum zu tun. Bei Patienten ohne Aura-Symptome ist der Einfluss womöglich sogar größer. Bei manchen verbessert sich der Zustand nach der Menopause, das muss aber nicht in allen Fällen so sein. Für die Forschung tut sich ein methodisches Defizit auf: In den großen Studien, die sich beispielsweise auf genetische Risikofaktoren für Migräne konzentrieren, sind nicht ausreichend viele Männer erfasst. Die bräuchte man jedoch, um fundierte Aussagen über die Rolle geschlechtsgebundener Faktoren zu machen.

Wie kommt es, dass Triptan bei zyklusbedingten Kopfschmerzen oft nicht hilft?

Zwanzig bis dreißig Prozent der Patienten sprechen ohnehin nicht auf Triptan an und wenn man den Wirkstoff zu spät einsetzt, hilft er auch nicht. Es gibt aber die Möglichkeit einer vorübergehenden prophylaktischen Behandlung vor und während der Periode.

Welche Rolle spielt die Psyche bei einer Migräne-Attacke. Wie eng ist die Verbindung zur Depression?

Die Migräne ist keine psychische Erkrankung, aber auf der anderen Seite kann sie, wie andere Schmerzerkrankungen auch, durch ihre Dauer und Intensität Auswirkungen auf die Psyche haben. Viele Patienten vermeiden auch mit dem Therapeuten zunächst das Gespräch darüber, weil sie befürchten, dann als „eingebildete Kranke“ nicht ernst genommen zu werden. Diese Angst muss der Arzt ihnen erst einmal nehmen. Außerdem weiß man aus Studien und auch der klinischen Praxis: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Migräne und Depression, aber auch Angsterkrankungen.

Kann man bei Migräne auf einen Placebo-Effekt setzen?

Placebo-Effekte sind bei der Behandlung der Migräne wie auch anderer Schmerzerkrankungen sehr stark ausgeprägt. In klinischen Studien, in denen neue Wirkstoffe mit „Scheinmedikamenten“ verglichen werden, ist das ein Problem. Aber in der tägliche Praxis ist der Placebo-Effekt eher etwas Positives, denn er zeigt: wenn es gelingt, eine positive Erwartungshaltung herzustellen, kann das stark zu einer Besserung der Beschwerden beitragen.

Welche Erfahrungen wurden mit Biofeedback gemacht?

Der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer hat eine sehr gute Methode der Körperwahrnehmung bei Biofeedback entwickelt. Damit werden gute Effekte erzielt.

Dokumentation: Ulla Steuernagel

Dr. Tobias Freilinger ist Neurologe, Migräne-Spezialist und Leiter der Kopfschmerzambulanz am UKT.

Dr. Tobias Freilinger ist Neurologe, Migräne-Spezialist und Leiter der Kopfschmerzambulanz am UKT.

Prof. Holger Lerche ist Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Tübingen. Bilder: Metz

Prof. Holger Lerche ist Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Tübingen. Bilder: Metz

Dr. Volker Malzacher ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Reutlingen.

Dr. Volker Malzacher ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Reutlingen.

Dr. Stefanie Hieber ist Anästhesistin und Intensivmedizinerin und arbeitet in der Schmerzambulanz.

Dr. Stefanie Hieber ist Anästhesistin und Intensivmedizinerin und arbeitet in der Schmerzambulanz.

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Erstellt:
25.11.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 01sec
zuletzt aktualisiert: 25.11.2016, 01:00 Uhr

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