Gesundheit

Wie viele Kliniken sind nötig?

Trotz umfangreicher Corona-Hilfen stecken viele Krankenhäuser tief in den roten Zahlen. Experten sind sich einig: Deutschland muss mit weniger auskommen. Doch die Politik geht das Thema nur zögerlich an.

31.08.2021

Von HAJO ZENKER

Im internationalen Vergleich leistet sich Deutschland mehr Klinikbetten als andere Staaten. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Im internationalen Vergleich leistet sich Deutschland mehr Klinikbetten als andere Staaten. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Berlin. Die meisten Deutschen nehmen Krankenhäuser erst wahr, wenn sie medizinische Hilfe brauchen. In der übrigen Zeit sind die Kliniken einfach da. Corona hat das geändert. Auf einmal diskutierte das Land die Zahl der Intensivbetten, sprach über abgesagte Operationen, überfordertes Pflegepersonal und freie Betten. Der Staat sprang mit großzügigen Ausgleichszahlungen ein. Diese lagen „in der Summe höher als die durch die Leistungsreduktion hervorgerufenen Mindererlöse“, gerade bei kleineren Kliniken, urteilt das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Essen. So hätten die 10,2 Milliarden Euro an Ausgleichszahlungen 2020 die Erlöse im Schnitt um 3,7 Prozent ansteigen lassen.

Doch ist, so seltsam es klingt, die Krisenzeit die Ausnahme. Die selbstverständliche Versorgung durch die Krankenhäuser ist massiv bedroht. Seit Jahren verschlechtert sich ihre Finanzlage. 2019 schrieb laut RWI jede dritte Klinik rote Zahlen, 13 Prozent der Krankenhäuser waren insolvenzgefährdet. 2016 lag der Anteil der verlustträchtigen Kliniken etwa zwei Drittel niedriger. Auch der Ausblick ist finster. Nach Corona könnte sich die Lage noch einmal verschlechtern. „Der Anteil der von Insolvenz bedrohten Kliniken wird in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter steigen“, sagt RWI-Gesundheitsexperte Boris Augurzky.

Das Paradoxe daran: Jahr für Jahr geben die Krankenkassen deutlich mehr für die Kliniken aus: 2020 waren es 81,55 Milliarden Euro, gut eine Milliarde mehr als 2019 und fast so viel wie für alle niedergelassenen Ärzte und alle Medikamente zusammen. Die finanzielle Schieflage befeuert eine Debatte, die bereits vor Corona zum Teil heftig geführt wurde. AOK-Chef Martin Litsch erklärte jede vierte Klinik für überflüssig, die Bertelsmann-Stiftung gar jede zweite. Tatsächlich weisen Experten seit Jahren darauf hin, dass sich Deutschland mit 1914 Kliniken über seine Verhältnisse lebe, was auf Dauer nicht durchzuhalten sei. Sogar Ingo Morell, der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, spricht von „viel Wildwuchs“. Laut OECD gibt es in der Bundesrepublik 7,9 Betten pro 1000 Einwohner. Nachbarländer wie Frankreich (5,8), Belgien (5,5) und die Schweiz (4,6) leisten sich deutlich weniger. Nimmt man sich gar Dänemark zum Vorbild, wird der Abstand noch größer: Dort gibt es 2,6 Betten pro 1000 Bürger. Auf Deutschland übertragen hieße das, gut 1600 Kliniken müssten schließen.

Entsprechend kommen die Wahlprogramme der Bundestagsparteien um das Thema nicht herum, ohne allzu konkret zu werden. Für die Union sind Krankenhäuser „in Stadt und Land ein wichtiger Anker der medizinischen Versorgung“, bedarfsgerechte und flächendeckende Angebote müssten in der Krankenhausfinanzierung aber „wesentlich stärker berücksichtigt werden, gerade mit Blick auf den ländlichen Raum“. Im Zentrum der Diskussion dreht es sich darum, die Angebote der niedergelassenen Ärzte (ambulant) besser mit denen der Kliniken (stationär) zu verzahnen. Auch weil die Behandlung in der Praxis ohne Betten deutlich billiger ist. Die SPD nennt das eine „Neuordnung der Rollenverteilung“ zwischen beiden Bereichen, die FDP den Abbau der „künstlichen Sektorenbarriere“. Gelten müsse „ambulant vor stationär“.

Für den FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann, selbst Arzt, kann jeder fünfte stationäre Fall ambulant behandelt werden. Das sehen die Grünen ähnlich, die zudem eine verbindlichere Krankenhausplanung fordern, für die der Bund Grundsätze definieren soll. „Welche Angebote es vor Ort gibt, darf nicht davon abhängen, was sich rentiert oder was sich Träger noch leisten können, sondern muss sich danach richten, was nötig ist“, heißt es im Programm. Angesichts der Probleme ist für die grüne Gesundheitsexpertin Maria Klein-Schmeink klar: „Ein Weiter so geht nicht.“

Es fällt auf, dass mehrere Parteien den Anteil privater Betreiber zurückdrängen oder ihnen strengere Regeln auferlegen wollen. Die SPD möchte „die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen beenden“, hier erzielte Gewinne müssten „verpflichtend und weitestgehend wieder in das Gesundheitssystem zurückfließen“. Bei Grünen und Linken klingt das ähnlich – es gehe um Gemeinwohlorientierung und darum, den Trend hin zu Privatisierung umzukehren. Die AfD fordert „eine Begrenzung privater Träger im Krankenhausbereich bei maximal 60 Prozent“.

Die FDP lehnt eine „Ungleichbehandlung von privaten, öffentlichen und konfessionellen Trägern entschieden ab“, sieht aber auch die Notwendigkeit einer gut durchdachten Strukturreform. „Wir brauchen nämlich keine Reform“, sagt Andrew Ullmann, „die wir vier Jahre später wieder über den Haufen schmeißen“.