Iranisches Kino am Puls des Lebens: kurdische Kinder kämpfen im Grenzgebiet ums Überleben.

Zeit der trunkenen Pferde

Iranisches Kino am Puls des Lebens: kurdische Kinder kämpfen im Grenzgebiet ums Überleben.

24.11.2015

Von che

Zeit der trunkenen Pferde

Das Filmland Iran war die große Kino-Entdeckung der neunziger Jahre. Neuerdings bekommt man davon auch in Tübingen etwas mit; die Filme "Der Kreis" und "Farben des Paradieses" liefen hier mit beachtlicher Resonanz. Das ist auch gut so, denn die jüngeren iranischen Regisseure haben schon lange keine Lust mehr, blindlings dem Altmeister Abbas Kiarostami nachzueifern, dessen statuarische Wüsten-Roadmovies ("Der Geschmack der Kirsche") fürs Hollywood-geneigte Publikum oft schwer verdauliche Kost waren. Die zweite und dritte Generation des mittelöstlichen Filmwunders knüpft vielmehr keck an westliche Erzählstandards an und versteckt ihre Kritik an Gesellschaft und religiösem Wahn durchaus nicht mehr hinter symbolschweren Bildern. Davon kann man sich in "Reise nach Kandahar" und "Zeit der trunkenen Pferde" überzeugen. (...)

In eine andere Problemzone der Region, an die Grenze zwischen Iran und Irak, führt Zeit der trunkenen Pferde. Auch dieser Film beruht auf authentischer Erfahrung: Als Regisseur Bahman Ghobadi 16 Jahre alt war, verschwand sein Vater spurlos. Bahman musste auf der Straße Zigaretten verkaufen, um seine Geschwister durchzubringen. Im Film ist der kleine Ayub zwölf, als ihm die Rolle des Familienoberhaupts zufällt. Sein behinderter Bruder braucht eine Operation, und um an Geld zu kommen, folgt Ayub mit seinem Maultier den Schmugglern über die minenverseuchte Grenze.

Das klingt ein bisserl sentimental, der Film selber hat aber überhaupt nichts Gefühliges. Wo "Kandahar"-Regisseur Makhmalbaf auf Stilisierungen setzt, um der Wirklichkeit gerecht zu werden, zeichnet Ghobadi ein rabiat realistisches Protokoll des Vegetierens in diesem toten, hauptsächlich von Kurden bewohnten Winkel der Welt. Fans von Armutsidyllen und Dritte-Welt-Folklore kommen da kaum auf ihre Kosten. Die Natur ist feindselig und abweisend; die Dörfer sind schmutzig und die Menschen stumpf geworden vom Kampf ums Überleben.

Dokumentarisch genau ist Ghobadis Blick, und das bedeutet keineswegs, dass man irgendwo eine Kamera hinstellt und draufhält. Die Menschen in ihrem ganzen sozialen und kulturellen Elend zu zeigen, ohne sie zu vergewaltigen; ihre Würde herauszustellen, ohne die Armut zu poetisieren das schafft bloß einer, der seine existenzielle Wut im Bauch hinausschreien möchte. Einer wie Bahman Ghobadi, der seine ganze Habe verkauft hat (und die seiner Freunde dazu), um diesen Film fertigstellen zu können.