Cold Case

Zeugen säen Zweifel an Alibi

Der Angeklagte im Prozess um den Mord an Brigitta J. will zur Tatzeit im Biergarten gesessen haben. Der hatte da aber wohl gar nicht mehr offen.

10.12.2020

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Stuttgart. So gelöst wie am Mittwochmorgen hat man den Angeklagten im Prozess um den Sindelfinger Frauenmord noch nicht erlebt. Es dürfte daran liegen, dass im Zeugenstand ein alter Bekannter sitzt. Und der lässt Hartmut M., den Ex-Topmanager, der die Stuttgarterin Brigitta J. am Abend des 14. Juli 1995 unvermittelt mit einem spitzen Gegenstand erstochen haben soll, in einem guten Licht erscheinen.

Ab Mitte der 80er-Jahre hatten Dieter B. und Hartmut M. in derselben Firma in Stuttgart gearbeitet. Man sei sich freundschaftlich verbunden gewesen, erzählt B. „Er war bei allen Kollegen geschätzt, hatte immer einen coolen Spruch auf den Lippen, galt als sehr kompetent.“ Der 68-Jährige ist in dem Indizienprozess ein zentraler Zeuge: Soll er Hartmut M., dessen DNA-Spuren an der Leiche gefunden wurden, doch das Alibi für die Tatnacht liefern. Die beiden Männer waren am Abend des 14. Juli 1995 zusammen. Die Frage ist: Wie lange?

Zahlreiche Stiche

Hintergrund: Brigitta J. wurde gegen 23.40 Uhr nahe des Sindelfinger Breuningerlandes auf dem Weg zur S-Bahn mit zahlreichen Stichen niedergestreckt. Der Angeklagte war nach der Tat überprüft worden, weil Zeugen einen schwarzen Honda CRX am Tatort gesehen hatten und er ein solches Modell fuhr. Bei der Polizei hatte M., der das Opfer laut Anklage nicht kannte, angegeben, mit Dieter B. bis Mitternacht in einem Biergarten gewesen zu sein.

M. sei an jenem Freitag zwischen 16 und 17 Uhr überraschend bei ihm in Leinfelden-Echterdingen (Kreis Esslingen) vor der Türe gestanden, erinnert sich der Zeuge. Davor hatten die Männer monatelang keinen Kontakt, weil M. Ende 1994 den Job gewechselt hatte.

Die Männer beschließen, in M.s Honda in die nahe Seebruckenmühle zu fahren. Im Biergarten wird gegessen und angestoßen. „Wir haben nicht wenig getrunken“, erinnert sich der 68-Jährige. Offenbar in Nostalgie vereint lachen an der Stelle beide Männer. Man hat sich viel zu erzählen, vor allem über die Arbeit. Stunden später brechen sie auf. M. habe ihn nach Hause gefahren. Danach habe man nie wieder Kontakt gehabt, erzählt der Zeuge.

Hat M. seinen Kollegen abgeliefert und dann gegen 23.40 Uhr die Stuttgarter Künstlerin ermordet? Vom Biergarten zu B.s Wohnadresse und weiter zur Tilsiter Straße in Sindelfingen, wo Brigitta J. starb, sind es zusammengerechnet etwa 30 Minuten. Die Crux: Es ist unklar, wie lange die Männer tatsächlich zusammensaßen. B. hat – wie so viele Zeugen in diesem Verfahren – nach 25 Jahren Erinnerungsprobleme. Es könne 22, aber auch 24 Uhr gewesen sein, sagt er am Mittwoch. 1995 war er Tage nach der Tat telefonisch von der Polizei befragt worden und hatte von Mitternacht gesprochen. Dass es um einen Mord ging, sei ihm damals nicht klar gewesen, er habe an ein Verkehrsdelikt, vielleicht eine Alkoholkontrolle, geglaubt. Er habe noch gedacht, M. würde sich mit Blick auf den Anruf der Polizei noch mal melden. Das habe er aber nicht. B. hakt die Sache danach ab.

Auch für die Ermittler der Soko Tilsit ist Hartmut M. erst mal erledigt. Erst Anfang dieses Jahres wird er mittels verbesserter DNA-Technik verhaftet. Dass es nach der Tat bei den Ermittlungen mit der Sorgfalt hapert, zeigt sich schon daran, dass in den Akten der Nachname des Zeugen B. zweimal unterschiedlich und falsch geschrieben wird. Auch wird offenbar nicht überprüft, ob der Biergarten überhaupt bis Mitternacht offen hatte.

Biergarten um 23 Uhr dicht

Geht es nach dem Sohn der damaligen Wirtsleute, der zu der Zeit im elterlichen Betrieb kellnerte, sei auf der Terrasse spätestens um 23 Uhr Schluss gewesen. Länger sei es nur in Ausnahmefällen gegangen, meint sich der 47-Jährige zu erinnern. Eine Information, die man kurz nach der Tat freilich besser hätte überprüfen können – und damit das Alibi Hartmut M.s, das man nicht gerade als bombensicher bezeichnen kann. Zwölf Jahre später wird er schuldig gesprochen, weil er die Anhalterin Magdalene H. getötet und den Shellkonzern um Millionen erpresst haben soll. Ob die Zweifel am Alibi auch in diesem Fall für eine Verurteilung ausreichen, bleibt indes abzuwarten.

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Erstellt:
10.12.2020, 06:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 10.12.2020, 06:00 Uhr

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