Kulturphänomene (119)

Zum Mitnehmen! Zu verschenken!

Waren das noch Zeiten, als man den Rat originell fand: „Stell die Bücher, die du nicht mehr brauchst, einfach in einem Karton raus, ich hab das mit meinen auch gemacht – die kommen weg.“ Das war doch mal ein toller Gedanke!

05.03.2018

Von Peter Ertle

Ach, die Bücher werden schon noch wegkommen, da sind wir zuversichtlich. Bilder: Ertle

Ach, die Bücher werden schon noch wegkommen, da sind wir zuversichtlich. Bilder: Ertle

Und auch früher stand auf dem Fußweg gelegentlich ein Karton mit Kinderspielsachen – „Zu verschenken!“ – die Eigenen waren vermutlich längst rausgewachsen und beim Entrümpeln des Dachbodens war es ein naheliegender Gedanke: „Vors Haus! Das können andere noch brauchen!“ Auch dass vor der Sperrmüllabholung Einzelpersonen und professionelle Suchkommandos das Rausgestellte nach Brauchbarem durchforsten, blieb nicht verborgen und wurde hin und wieder auch ohne Sperrmüllabholung probiert. Kommode vors Haus, Zettel dran: „Zum Mitnehmen!“

Kann es sein, dass der Flüchtlingsstrom dann den großen Ausschlag gab? Dass man sich da wieder klar darüber wurde, wie sehr andere brauchen, was wir selbst nicht mehr benötigen? Wie auch immer – Dinge vors Haus stellen, Zettel dran: „Zu verschenken!“ wird in jüngster Zeit epidemisch. Ein verbeultes Regal: „Zum Mitnehmen!“ Auf einem Mäuerle ein flacher Plastiksack: „Zu verschenken!“ Wir schauen rein: Ein kleines schwarzes Kleid, Größe 34, noch tadellos erhalten.

Letzteres ist nicht immer der Fall. Neulich die Kiste, in der sich alte Kleiderbügel, eine Bürste mit Haaren drin und ein Handspiegel mit Sprung befanden: „Zu verschenken!“ Da wollte jemand seinen Hausmüll nicht unnötig verstopfen. Nach unten, in Richtung Schrott, gibt es keine Grenze. Aber falls der mit einer Plastikfolie sorgsam vor Regen geschützte Videorecorder – „Zum Mitnehmen!“ – noch intakt war: Also der sah gut aus, da hat sich vermutlich einfach jemand einen neuen gekauft.

Nun gibt es Kleinanzeigen, es gibt Ebay, allerlei Tauschbörsen, Altkleidercontainer, Antiquariate. . . Aber da muss man halt überall Zeit und Anstrengung investieren. Vors Haus ist so was von bequem. Und schon gehört man nicht mehr zur Wegwerfgesellschaft. Vielleicht kann es noch wer brauchen, ein schöner Gedanke an sich. Die Straßen vor den Häusern als Basarzeilen eines Flohmarkts, gehandelt wird nicht, nicht mal bezahlt, es gilt Selbstabholernulltarif, wir sind froh, wenn’s weg ist.

Hat es womöglich mit der Kombination aus schnellerem Warenkreislauf und zunehmend individualisierter Singlegesellschaft zu tun? Hat man früher den ausrangierten Recorder nicht eher mal den studierenden Kindern gegeben, die Puppe den Kindern der Kinder oder den Kleinen der Nachbarn? Hätte sie früher das kleine Schwarze nicht der Kollegin gegeben, von der sie wusste, dass es ihre Größe ist und ihr so was steht? Ach, entweder haben die heute schon alles oder sie wollen nicht das alte Zeug, jeder hat schließlich seine eigenen Vorstellungen. Vielleicht schämt man sich auch, jemand zu fragen. Oder man kennt sowieso niemand und will keinen Kontakt, jedenfalls nicht diesen. Oder man müsste sonst hoch zum Schweinerain fahren: Vor einigen Wochen stand an einer Straße tatsächlich ein ganzer Haufen, der Zusammensetzung nach sichtbar beim Umzug übrig geblieben und nicht zum Mitnehmen in die neue Wohnung für wert befunden, Zettel dran: „Zum Mitnehmen!“ Da wird es dann schon kriminell, aus dem schönen Gedanken des Teilens und Weitergebens wird ein Akt der Verwahrlosung und Vermüllung.

Aber das ist nur die negative Spitze. Auf der anderen, der positiven Seite, zeigt sich an dieser Rausstellerei ein Verlangen nach Sinn, Verbindung, Nachhaltigkeit und – wenn auch realtiv anonymer – Nachbarschaftlichkeit. Dort, wo ich bin, in meinem Viertel, meiner Straße, ohne überflüssige Wege, leg ich’s hin. Und wer weiß, vielleicht seh ich zwei Straßen weiter selbst etwas, das ich brauchen kann. Schönstes Erlebnis vor einigen Wochen: Der Stuhl, der morgens dastand, abends noch immer: „Zum Mitnehmen!“ Am nächsten morgen war er verschwunden. Am Busch dahinter war jetzt ein anderer Zettel befestigt: „Danke!“