Übrigens

Zwischen Tradition und Scheinheiligkeit

Ist der weihnachtliche Kirchgang eine schöne Tradition oder doch nur Heuchelei? Ein Kommentar.

23.12.2016

Von Lorenzo Zimmer

In meiner Kindheit lebten meine Großeltern einige Autostunden von uns entfernt. Zu meinem Glück übernahm eine ältere Dame, die im Hochparterre bei uns im Haus lebte, die Rolle einer Großmutter. Sie bekochte mich gelegentlich, las mir regelmäßig etwas vor und beantwortete mir mit großer Geduld und Hingabe alle meine kindlichen Fragen bei einer täglichen Partie „Mensch Ärgere Dich Nicht“. Eine echte Oma eben.

Eines Tages – ich war noch im Kindergarten – richtete die fromme Frau wegen einer vermeintlichen Lappalie mahnende Worte an mich: „Wenn du lügst, wachsen dir Hörner und jeder kann sehen, dass du ein Teufel bist!“ Gänzlich unbeeindruckt entgegnete ich, ohne über die Konsequenzen nachzudenken: „Aber ich habe schon ganz oft gelügt und habe noch keine Hörner!“ Bei dieser Aussage strich ich mir altklug über die höckerlose Bubenstirn.

Diese nicht nur grammatikalisch zweifelhafte Antwort mit entsprechender Geste ist über die Jahre zu einer viel zitierten Redewendung in meiner Familie geworden. Damals führte sie zu blankem Entsetzen bei meiner christlichen und kirchentreuen Ersatzoma, die mich als Lügner am Beginn einer schiefen Bahn wähnte. Um dieser drohenden Entwicklung Einhalt zu gebieten, nahm sie mich fortan jeden Sonntag mit in die Kirche. Damals sehr zu meinem Leidwesen.

Seit meine Aushilfs-Großmutter weggezogen ist, bin ich nur noch an Heiligabenden in der Kirche. Und ernte deswegen alljährlich von Freunden viel Spott. Die Gläubigen beschuldigen mich der Scheinheiligkeit: „Wenn du eh nur an Weihnachten gehst, kannst du es dir gleich sparen“, so, als würde ich Vergebung ersuchen, weil ich wieder das ganze Jahr nicht gekommen bin. Mag sein.

Die Agnostiker und Atheisten unter meinen Freunden sagen: „Wenn du Tradition an Weihnachten willst, sag mit deiner Familie Gedichte auf – dafür brauchst du die Institution Kirche nicht.“ Stimmt auch.

Zwischen eigener Scheinheiligkeit und Kritik an der Kirche zwiegespalten, begann ich die Teilnahme an der Christvesper in Frage zu stellen. Denn die Unentschlossenen stehen heftig in der Kritik: Ganz oder gar nicht, heißt es dann wie so oft. Dabei erforschen Kulturwissenschaftler und Soziologen das Phänomen der „Feiertagskirchgänger“ seit Jahrzehnten und können es erklären.

Einmal sind wir, wegen eines Krankheitsfalles in der Familie, nicht zum Gottesdienst gegangen – beim Auspacken der Geschenke war ich dann richtig bedrückt. Es hat mir etwas gefehlt. Da begriff ich, dass mir das rationale Für und Wider gar nicht wichtig ist. Denn jedes Jahr, wenn ich auf der knarrenden Holzbank in einer der hinteren Reihen der Tübinger Stiftskirche sitze und die Kerzen am Baum entzündet werden, habe ich aufs Neue einen Kloß im Hals.

Und so werde ich auch dieses Jahr wieder mit meiner Familie zum Gottesdienst in die Stiftskirche gehen. Nachdem die Gebete gesprochen, die Predigt gehalten und die anderen Melodeien gesungen sind, wird das alljährliche „O du Fröhliche“ als letztes Lied erklingen. Und während es durch die Kirchenmauern auf den Holzmarkt schallt, werde ich von einem religiösen Zauber gerührt sein. Dann kommt endlich der Moment, in dem wir uns umarmen und sagen: „Frohe Weihnachten.“ Ganz ohne Scheinheiligkeit

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Erstellt:
23.12.2016, 07:26 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 36sec
zuletzt aktualisiert: 23.12.2016, 07:26 Uhr

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