Die Stadt mit anderen Augen

Zwei neunte Klassen des Eugen-Bolz-Gymnasiums machten gestern den Rolli-Test

Die eigene Stadt mit anderen Augen sehen: Das war das Lernziel einer ungewöhnlichen Schulstunde zweier neunten Klassen des Eugen-Bolz-Gymnasiums, die gestern mit den Kreis-Behindertenbeauftragten von Tübingen und Reutlingen auf Tour gingen, um Barrieren für Menschen mit Behinderungen zu erkennen. Gefördert wurde das Projekt von der Aktion Mensch.

10.05.2016

Von Ulrich Eisele

„Ganz schön anstrengend“ fand Jan Öhrlich, zum ersten Mal im Rollstuhl, den Anstieg in der Klostergasse zum Marktplatz. Wie man es dennoch hinaufschafft, erklärte hinter ihm sein Lehrer Andreas Braun, der seit einem Unfall vor zehn Jahren auf dieses Gefährt angewiesen ist. Bild: Eisele

„Ganz schön anstrengend“ fand Jan Öhrlich, zum ersten Mal im Rollstuhl, den Anstieg in der Klostergasse zum Marktplatz. Wie man es dennoch hinaufschafft, erklärte hinter ihm sein Lehrer Andreas Braun, der seit einem Unfall vor zehn Jahren auf dieses Gefährt angewiesen ist. Bild: Eisele

Rottenburg. „Es geht uns nicht darum, irgendwen anzuprangern“, erklärte Willi Rudolf, Behindertenbeauftragter für den Kreis Tübingen. „Wir wollen vielmehr einen Wettbewerb in Barrierefreiheit entfachen. Positive Dinge hervorheben.“ Und der Landes-Behindertenbeauftragte Gerd Weimer erklärte rund 40 Schülerinnen und Schülern auf dem Marktplatz: Der 5. Mai sei der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. In den vergangenen fünf Jahren sei das Land in puncto Teilhabe zwar vorangekommen, doch es gebe noch viel zu tun, um allem Menschen mit Behinderung ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen.

Danach kam die Praxis. Mit Rollstühlen, Blindenstöcken und dem „Städtetest“-Fragebogen der Aktion Mensch ausgerüstet, zogen die Schüler/innen in Fünfergruppen los, um die Zugänglichkeit von Restaurants, Kinos, Kirchen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen zu testen. Jede Gruppe wurde von einer Rottenburgerin (oder einem Rottenburger) mit Handicap angeführt.

Nicht so einfach,

wie es aussieht

Dass Rollstuhlfahren nicht so einfach ist, wie es aussieht, diese Erfahrung machten Janosch, Jan und Denis, Nicolas und Yannick aus der Klasse 9b. Ihr Lehrer Andreas Braun ist seit einem Unfall als Feuerwehrmann selbst auf so ein Gefährt angewiesen und kennt die Tücken. „Diese Straße hat sicher mehr als sechs Prozent Steigung, vielleicht acht oder neun Prozent“, erklärte er seinen Schülern in der Klostergasse. Damit wäre sie nach heutigen Maßstäben nicht rollstuhltauglich. Mit etwas Armschmalz und ausgefuchster Technik ist die Steigung dennoch zu schaffen. Für Jan Öhrlich eine sportliche Herausforderung, die ihm zugleich die Einsicht vermittelte: „Ganz schön anstrengend.“

Für den Vordereingang der Kreissparkasse am Marktplatz braucht ein Rolli-Fahrer kräftige Helfer, die ihn hochtragen. „Schaut mal, was da steht“, machte Andreas Braun die Schüler auf ein kleines, blaues Schild mit einem Rollstuhl-Signet und einem Pfeil aufmerksam. Ach ja: zum Hintereingang! Dort gibt es in der Tat einen barrierefreien Zugang, sogar einen mit Aufzug. Besser als eine Treppe ist für Rollstuhlfahrer eine schräge Rampe, selbst wenn sie steiler als die vorschriftsmäßigen sechs Prozent ist: Dann kann ein Helfer mit wenig Kraftaufwand den Stuhl hochschieben, lernten die Schüler bei der Buchhandlung Osiander.

„Es hat sich schon einiges getan“, urteilte Gerd Weimer nach einem Gang durch die Marktgasse. Viele Geschäfte hätten ihre Eingänge barrierefrei gemacht. „Das ist ja auch ein Konkurrenzvorteil“, warb der Landes-Behindertenbeauftragte für mehr Sensibilität in dieser Frage. Michael Gorin fand es „überraschend, dass ein Rollstuhl so schwer zu steuern ist. Ganz schön steil“ kam ihm damit Rottenburgs Einkaufsstraße vor, die er sonst zu Fuß in lässigem Schritt hinauf strebt.

Lernen kann auch

Spaß machen

Luis Branz und ein paar Klassenkameraden entwickelten derweil sportlichen Ehrgeiz, die Stufe zum Domportal im Alleingang zu überwinden. Erfolglos mühten sie sich viele Male – doch das Gefährt drohte dabei stets, nach hinten umzukippen. Großes Gelächter bei den Jugendlichen. Man sieht: Erkenntnis und Spaß schließen sich nicht gegenseitig aus, lernen kann auch Freude machen.

gsiehe auch Steinlach-Seite

5. Mai: Europäischer Protesttag zur Gleichstellung

Der 5. Mai ist der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Seit 23 Jahren veranstalten Verbände und Organisationen der Behindertenhilfe und -selbsthilfe rund um diesen Tag überall in Deutschland Podiumsdiskussionen, Informationsgespräche, Demonstrationen und andere Aktionen wie die gestern in Rottenburg und Mössingen. Dabei geht es darum, die Kluft zwischen dem im Grundgesetz verankerten Anspruch der Gleichberechtigung für alle Menschen und der Lebenswirklichkeit ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Entstanden ist der Protesttag 1992 auf Initiative des Vereins Selbstbestimmt Leben, einer Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung. Inzwischen ist der Protesttag nicht nur für sozialpolitisch engagierte Menschen ein fester Termin im Kalender.

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Erstellt:
10.05.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 49sec
zuletzt aktualisiert: 10.05.2016, 01:00 Uhr

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