Ein Leben für die Langsameren

Engelbert Bauer geht nach 31 Jahren als Rektor der Lindenschule in den Ruhestand

Wenn Engelbert Bauer am Ende dieses Schuljahres mit 63 Jahren in den Ruhestand geht, war er 31 Jahre lang Rektor der Lindenschule – und somit einer der am längsten amtierenden Schulleiter im Kreis Tübingen. „Wir sind damals alle schnell in Funktionsstellen gekommen“, erklärt er den Rekord, „weil Sonder- oder Förderschulen ein neuer Schultyp waren und es dafür noch keine speziell ausgebildeten Lehrer gab.“

24.05.2016

Von Ulrich Eisele

Engelbert Bauer geht nach 31 Jahren als Rektor der Lindenschule in den Ruhestand

Am 5. September 1985 hat Engelbert Bauer als Rektor der Lindenschule angefangen. Da war er gerade 32 Jahre alt. Davor hatte er in Reutlingen und Tübingen Sonderpädagogik studiert, war Sonderschullehrer in Böblingen, Konrektor und zuletzt ein Jahr lang kommissarischer Sonderschulleiter in Stuttgart.

An Engelbert Bauers Biografie lässt sich exemplarisch der Wandel im Umgang mit behinderten Kindern in Deutschland ablesen: Während die „Heilpädagogik“ in der Weimarer Republik experimentierfreudig neue Wege ging, nutzten die Nationalsozialisten das seit der Jahrhundertwende überkommene Hilfsschulsystem verstärkt zur Aussonderung und später zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.  Körperlich und geistig behinderte Schüler wurden zwangssterilisiert und in „Euthanasie“-Anstalten ermordet.

Nach 1945 bauten im wesentlichen die schon im Nationalsozialismus tätigen Lehrer die Hilfsschulen wieder auf, die ab 1955 „Sonderschulen“ hießen. Erst in den 1970er Jahren setzte ein kritisches Umdenken ein, erschienen Aufsätze, die sich mit den NS-Verbrechen auseinandersetzten. In dieser Zeit begann Engelbert Bauer sein Studium. „Das war schon eine politische Entscheidung“, sagt er. Bereits als Kind hätten ihn die abwertenden Blicke gegenüber seiner gehbehinderten Mutter gestört, erzählt er.

Aus dem Studium sind ihm noch die Vorlesungen beim legendären Tübinger Jugendpsychiater Reinhard Lempp in Erinnerung. Es war eine Zeit des Aufbruchs, in der vor allem Elterninitiativen aufbegehrten. Auch die Lindenschule entstand aus so einer Elterninitiative. Sie wurde 1968 als „Sonderschule für bildungsschwache Kinder und Jugendliche“ vom Vereins „Lebenshilfe“ Rottenburg gegründet. 1973 übernahm der Landkreis die Trägerschaft und baute das Schulhaus in der Leipzigerstraße. Heute ist die Lindenschule eins von zwei „Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ im Kreis Tübingen (das andere ist die Kirnbachschule in Pfrondorf).

Zu den Besonderheiten seines Berufs gehört für Engelbert Bauer, dass er mit seinen Schülern den ganzen Tag über zusammen ist. „Man lernt zusammen, isst zusammen, verbringt viel Zeit zusammen.“ So lernt er seine Schüler besser kennen, als dies an einer „normalen“ Schule die Regel ist. Zumal er immer auch Lehrer an seiner Schule war, nicht nur Rektor. Wie familiär es dort zugeht, belegt für ihn eine Geschichte von einem seiner Schüler, der ihm nach den Ferien vor Wiedersehensfreude um den Hals fiel. Die Lindenschule als Engelbert Bauers Zweitfamilie? Aus seiner ersten, nebenbei, gingen drei Kinder hervor, von denen keines den Beruf des Vater ergreifen mochte.

Fast familiär ist für ihn auch ein Gang durch Rottenburg. Auf Schritt und Tritt begegnet er ehemaligen Klienten. „Weil ich 28 Jahre lang auch die Frühberatungsstelle an unserer Schule geleitet habe, verabschiede ich heute manchmal Schüler, mit deren Lebensgeschichte ich schon konfrontiert war, als sie noch ein Baby waren“, erzählt er.

Wenn Schüler die Lindenschule verlassen, sind sie meist schon etwas älter als andere Schulabgänger. Manchmal brauchen sie etwas länger fürs reine Schulpensum. Eine Rolle spielen heute aber auch die sehr umfangreichen, berufsvorbereitenden Kurse. Die sind so erfolgreich, „dass wir zur Zeit eine hundertprozentige Vermittlungsquote haben“, erzählt Bauer. Für einige ist das der Arbeitsplatz in einer beschützenden Werkstatt, aber etliche schaffen es auch auf eine Stelle im so genannten Ersten Arbeitsmarkt. „Man kann sagen: Wir sind die einzige Schule mit Arbeitsplatzgarantie“, sagt Engelbert Bauer und lächelt dazu verschmitzt.

Die Akzeptanz und Durchlässigkeit für Menschen mit Behinderungen sei in der Gesellschaft größer geworden, findet Bauer.Sorge bereiten ihm zwar die zuweilen schrillen Statements der AfD zu Inklusion und Teilhabe. Aber er vertraue darauf, sagt er, „dass persönliche Begegnungen dem entgegen wirken werden. Wir sind natürlich Sand im Getriebe“, sagt er metaphorisch und meint sich und die Schüler: „Aber heilsamer Sand. Dieses Immer-höher-immer-weiter-immer-toller – tut uns das gut?“, fragt er rhetorisch. „Wer ist denn da behindert?“

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Erstellt:
24.05.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 54sec
zuletzt aktualisiert: 24.05.2016, 01:00 Uhr

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