Horb · Justiz

Profunde Einblicke

Dem Prozess um den Mord an Michael Riecher aus Nordstetten steht die Sommerpause bevor. Zum gestrigen Termin waren keine Zeugen geladen.

05.07.2019

Von Manuel Fuchs

Ausgewählte Dokumente aus dem umfangreichen Apparat der Prozessakten wurden gestern am Rottweiler Landgericht verlesen. Bild: Manuel Fuchs

Ausgewählte Dokumente aus dem umfangreichen Apparat der Prozessakten wurden gestern am Rottweiler Landgericht verlesen. Bild: Manuel Fuchs

Im Prozess, der gestern am Landgericht Rottweil den 10. Verhandlungstag des Hauptverfahrens erlebte, sind zwei Männer aus Syrien wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit Mord angeklagt. Anders als an zurückliegendenVerhandlungstagen wurden keine Zeugen vernommen, sondern Dokumente verlesen. Die Strafprozessordnung schreibt ein solches Prozedere vor, damit die Dokumente als Beweise gelten können.

Der Vorsitzende Richter Karlheinz Münzer stellte zu Beginn ein umfangreiches Tagesprogramm in Aussicht: 90 Dokumente sollten verlesen werden. Es wurden etwa halb so viele, aber auch die hatten es schon in sich, gewährten unter anderem Einblicke in den Lebenslauf des ersten Angeklagten: Er wurde 1991 in Syrien geboren, studierte nach eigenen Angaben Mathematik in Damaskus, arbeitete zunächst in Syrien als Lehrer und von 2012 bis 2015 im türkischen Izmir als Programmierer.

Weiters wurde offenbar, dass er am 5. August 2015 in die Bundesrepublik eingereist war und am 9. September einen Asylantrag gestellt hatte, weil er befürchtete, in seinem Heimatland Syrien verfolgt zu werden. Das Bundesamt für Migrations und Flüchtlinge (BAMF) erkannt ihm im Oktober 2015 die Flüchlingseigenschaft z und erteilte eine bis 2. März 2019 befristete Aufenthaltegenehmigung. 2018 prüfte das BAMF, ob Voraussetzungen für einen Widerruf dieser Zuerkennung oder ein Rücknahmeverfahren vorliegen. Es bat am 15. Januar die Stadt Horb, wo der erste Angeklagte zu diesem Zeitpunkt wohnte, um Ausküfte. Zu welchem Ergebnis die Prüfung kam, wurde im Verlauf der gestrigen Verhandlung nicht deutlich.

Der erste Angeklagte erhielt am 1. Oktober 2016 einen Arbeitsvertrag, der zum 1. September 2019 in einen unbefristeten Vertrag umgewandelt wurde. Ende September 2019 kaufte er ein Auto, wofür ihm sein Arbeitgeber ein Darlehen gewährt hatte. Dieses sollte er über Lohnabzüge zurückzahlen.

Am 29. April 2018 heiratete der Mann nach islamischen Recht eine 21-jährige, in Tübingen wohnhafte Syrerin. Die Heiratsurkunde nennt eine Morgengabe von 3000 Euro, die der Bräutigam bei der Hochzeit zu zahlen hatte, und eine Abendgabe von 5000 Euro für den Fall einer Scheidung.

Ständige Geldnot

Viel Raum nahm die Darstellung der finanziellen Verhältnisse des Angeklagten ein: Am 29. März richtete er ein Girokonto mit Kreditkarte ein. Dessen Saldo rutschte trotz regelmäßiger Überweisungen seines Arbeitgebers und einzelner Transfers von Privatpersonen aus dem In- und Ausland sofort vierstellig ins Minus.

Weiterere Dokumente verdeutlichten die finanzielle Abwärtsspirale: Zum einen zog der erste Angeklagte regelmäßig mit der Kreditkarte Geld aus Geldautomaten, was sein Konto zwar erst mit Verzögerung belastete, aber regelmäßig Gebühren von 5 bis 10 Euro anfallen ließ.

Auch ungedeckte Lastschriften wuchsen rasch zu Forderungen in mehrfacher Höhe; beispielsweise wurde ein mit Girokarte bezahlter 15-Euro-Einkauf bei einem Baumarkt mangels Kontodeckung nicht eingelöst. Die Mahnungen ignorierte der Mann, sodass die Forderungen binnen zwei Monaten bei 85,80 Euro standen. Ähnlich erging es ihm mit Rechnungen seines Mobilfunkanbieters und eines Fitness-Studios. Der Vollständigkeit halber ergänzte Rechtsanwalt Thorsten Zebisch, dass sein Mandant die Schulden beim Baumarkt inzwischen beglichen habe.

Im Oktober 2018 war der erste Angeklagte mit ungefähr zweieinhalbtausend Euro verschuldet, was etwa zwei seiner Monatsnettolöhne entsprach. Die Bank kündigte daraufhin das Konto, forderte den ersten Angeklagten auf, die ausstehende Summe bis 10. Januar 2019 zu begleichen –  notfalls in Ratenzahlungen.

12,5 Feinunzen Gold

Eine verlesene Vollmacht über ein Bankgeschäft legt folgendes Szenario nahe: Ende Oktober 218 sollte der Angeklagte im Auftrag des wenige Tage darauf getöteten Nordstetters Michael Riecher bei einer örtlichen Bank Krügerrand-Goldmünzen im Wert von etwa 9800 Euro kaufen.

Ob dieser Kauf abgewickelt wurde, zeigten die verlesenen Dokumente nicht eindeutig. Die Vollmacht etabliert jedoch eine Verbindung zu Michael Riechers Terminkalender: Dort waren am 2. November 2018 für 20 Uhr „Gold“ und der Name des ersten Angeklagten notiert. Möglicherweise erwartete Richer zu diesem Zeitpunkt die Übergabe der gekauften Münzen. Tatsächlich wurde er an diesem Abend getötet.

Die Ehefrau des ersten Angeklagten hatte am 17. Oktober 2018 bei einer anderen Bank ein Konto eröffnet. Am Abend des 6. November, also wenige Tage nach Michael Riechers Tod wurden darauf in zwei Chargen 350 Euro bar einbezahlt und per Überweisung am Kundenterminal in einer Filiale zwei offene Rechnungen des ersten Angeklagten über 220,84 und 71,63 Euro beglichen. Danach wies das Konto ein Saldo von 49,25 Euro auf, wie aus der von der Staatsanwaltschaft angeforderten Bankauskunft hervorgeht.

Bei der Durchsuchung der Tübinger Wohnung, in der die Frau des ersten Angeklagten mit ihrer Familie lebt, wurde ein Geldbeutel mit 300 Euro und mehreren Plastikkarten gefunden. Eine Hose, welche die Frau am Abend von Michael Riechers Tod getragen haben will, sowie ein weiterer Geldbeutel mit 95 Euro Bargeld wurden als Spurenträger sichergestellt.

Persönliche Briefe

Ebenfalls verlesen wurden persönliche Briefe des ersten Angeklagten, die er aus der Haft an seine Mutter, an eine Horber Bürgerin, die im Freundeskreis Asyl tätig ist, sowie an den „Herrn Staatsanwalt“ geschrieben hat. Darin beteuert er seine Unschuld und ordnet die Haft als „Prüfung Allahs“ ein. Im Brief an Oberstaatsanwalt Dr. Christoph Kalkschmid stellt der Autor außerdem sein eigenes hilfsbereites, wohlwollendes Wesen in den Vordergrund und betont, wie dankbar er sei, in Deutschland leben zu dürfen. Er sei zuversichtlich, dass der Staatsanwalt irgendwann seine Unschuld anerkennen werde.

Ein Brief des ersten Angeklagten an seine Frau, in dem er sich laut Ankündigung des Vorsitzenden Richters Münzer zum Tatvorwurf äußert, wurde auf Rechtsanwalt Zebischs Vorschlag zurückgestellt: Es sei sinnvoll, zuvor die Ehefrau als Zeugin zu vernehmen. Dieser Einschätzung schloss sich Münzer an.

Über den zweiten Angeklagten war aus den verlesenen Dokumenten folgender Lebenslauf zu rekonstruieren: Er wurde 1986 in Hawalli, einem Viertel in Kuwait-Stadt geboren. Wie sich aus dieser eindeutigen Information die verschiedenen Darstellungen seiner Staatsangehörigkeit ableiten lassen – im Laufe des Verfahrens war bereits von „ungeklärt“, „staatenlos“ und „syrisch“ die Rede – sei für seinen Mandanten nicht ersichtlich, gab dessen Rechtsanwalt Kristian Frank zu Protokoll. Sein Mandant bezeichne sich selbst als Palästinenser.

Mit seinen Eltern, zwei Brüdern und drei Schwestern habe er in Ramallah im Westjordanland gelebt, dort zunächst in einem Café, später als Verkäufer in einem Süßwarengeschäft gearbeitet und seine spätere Frau kennengelernt, die eineinhalb Jahre jünger ist als er selbst. Sie stamme aus einer streng religiösen Familie, welche gegen diese Verbindung war.

Kurz vor der Heirat im August 2015 verstarb ihr Vater, ihre Mutter selbst bezeugte die Eheschließung nach islamischem Recht. Danach jedoch sei seine Frau von ihren Onkeln massiv bedroht worden, sodass sich das Paar entschloss, das Land zu verlassen.

Über die Ausreise wurden zwei Versionen vorgetragen: Die eine soll über Jordanien in die Türkei geführt haben, von dort mit einem Lastwagen bis Deutschland. So hat es die Frau des zweiten Angeklagten bei ihrem Asylantrag dargestellt. Er selbst habe ein Visum für Spanien bekommen und sei von dort in die Bundesrepublik eingereist.

Verbürgt ist der 3. Dezember 2015 als Datum der Einreise; der Asylantrag wurde am 22. November 2016 gestellt und zunächst mit einer Aufenthaltsgestattung bis 30. Juli 2018 beantwortet. Inzwischen, das geht aus einem Auszug des Bundeszentralregisters vom 16. April 2019 hervor, ist der zweite Angeklagte von seiner Frau geschieden.

Die 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil setzt die Hauptverhandlung am Donnerstag, 1. August, um 9 Uhr fort.

Das Antisemitismus-Thema im Verfahren

Das Opfer sei Jude. Durch diesen (falschen) Hinweis habe sich der zweite Angeklagte zur Tat überreden lassen. Das sagte ein Zeuge am vorigen Verhandlungstag vergangene Woche aus. Aus Sicht des Palästinensers habe der jüdische Staat Israel palästinensisches Land gestohlen.

Daraus entwickelte die israelische Zeitung „Jerusalem Post“ einen antisemitischen Anlass für einen Raubmord. Sowohl Anwälte der Verteidigung als auch der Nebenklage sahen gestern im Gespräch mit der SÜDWEST PRESSE jedoch keinen Hinweis darauf, dass Antisemitismus bei Planung und Durchführung der Tat eine wesentliche Rolle gespielt habe.

Dennoch greifen Internet-Portale, welche die Grenze zur Polemik regelmäßig weit hinter sich lassen, die Sicht der Jerusalem Post inzwischen auf. Daraus konstruieren sie Vorwürfe, die ihr illiberales Weltbild zu stützen.

Gestern war zudem eine überregionale deutsche Tageszeitung mit Hang zur stark vereinfachenden Darstellung komplexer Sachverhalte im Rottweiler Gerichtssaal vertreten. Ob hierfür das kursierende Schlagwort „Antisemitismus“ der Anlass war, darüber lässt sich allenfalls spekulieren.

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Erstellt:
05.07.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 13sec
zuletzt aktualisiert: 05.07.2019, 01:00 Uhr

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