Gesundheitstag: Es mangelt an Diabetes-Fachärzten

Im Universitätsklinikum Tübingen hat fast jeder vierte stationär behandelte Patient Diabetes

Wie wichtig die frühzeitige Diagnose ist und wie sich das Gesundheitssystem auf die hohen Patientenzahlen einstellen sollte, dazu äußern sich Tübinger Experten.

20.11.2018

Von Ulla Steuernagel

So einfach lässt sich mittlerweile der Blutzucker messen. Bild: Andrey Popov/ fotolia.com

So einfach lässt sich mittlerweile der Blutzucker messen. Bild: Andrey Popov/ fotolia.com

Die Diabeteserkrankungen Typ 1 und Typ 2 nehmen rasant zu. Vor dem gemeinsam vom Uniklinikum Tübingen und dem TAGBLATT veranstalteten Gesundheitstag Diabetes am Donnerstag, 22. November, um 19 Uhr im Sparkassen Carré befragten wir die fünf Podiumsteilnehmer und Experten nach den Gründen und den Vorkehrungen, die das Gesundheitssystem gegen diese alarmierende Verbreitung treffen kann. Es antworteten: Prof. Andreas Fritsche, Prof. Baptist Gallwitz, Prof. Andreas Neu, Prof. Norbert Stefan und der niedergelassene Diabetologe Dr. Jan Stock.

Man spricht mittlerweile von Diabetes als einer Volkskrankheit. Betrifft das beide Typen von Diabetes?

Die Neuerkrankungsrate an Typ 1 Diabetes hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Das ist eine enorme Zunahme: Keine andere chronische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter schreitet mit dieser Dynamik voran. Wir beobachten jedes Jahr eine Steigerung der Neuerkrankungsrate um drei bis vier Prozent. Das betrifft Baden-Württemberg, Gesamtdeutschland, aber auch die benachbarten europäischen Länder.

Und wie ist es bei dem sogenannten Altersdiabetes?

Auch Typ 2 Diabetes nimmt in Deutschland und weltweit sehr stark zu. Derzeit sind in Deutschland etwa 6,5 bis 7 Millionen Menschen von Typ 2 Diabetes betroffen, die Dunkelziffer, das heißt, die Zahl der Menschen, die von ihrem Typ 2 Diabetes noch nichts wissen, wird auf bis zu 2 Millionen Menschen geschätzt. Die Zahl der Neuerkrankungen in Deutschland beträgt für den Typ 2 Diabetes jährlich 500 000. Somit ist Diabetes eine der am stärksten zunehmenden Volkskrankheiten weltweit.

Was sind die Gründe für diese zunehmende Verbreitung?

Die genauen Ursachen für eine kontinuierlich steigende Neuerkrankungsrate beim Typ 1 Diabetes kennen wir nicht. Diskutiert werden genetische Ursachen und Umweltursachen, die zu dieser Autoimmunerkrankung führen. Vieles spricht dafür, dass ein Zusammenhang mit unseren Lebensgewohnheiten besteht. Untersucht wurden Ernährungsgewohnheiten, Grad der Industrialisierung, klimatische Faktoren und vieles andere mehr. Greifbare Ursachen ließen sich nicht ausmachen.

Aber bei Typ 2 weiß man doch mehr über Ursachen und Risikofaktoren?

Risiken für den Typ 2 Diabetes sind zum einen erbliche Veranlagungen durch Stoffwechselgene, zum anderen unsere heutige Umwelt und Lebensweise mit zu wenig Bewegung und zu viel Kalorien. Neuere Forschungen zeigen, dass zudem der Lebensstil der Eltern und Großeltern einen Einfluss auf das zunehmende Auftreten hat, man nennt dies epigenetische Vererbung. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass vor allem Menschen mit reduzierter Insulinausschüttung, einer Fettleber und einer verminderten Insulinwirkung Diabetes bekommen.

Zeigt sich das Gesundheitssystem für den Zustrom an Patienten ausreichend gewappnet? Werden genügend Fachärzte ausgebildet, genügend Fachkräfte geschult und stationäre und ambulante Einrichtungen zur Verfügung gestellt?

Bereits heute zeichnet sich ein zunehmender Mangel an Kinderdiabetologen in vielen Regionen ab. Etliche Stellen sind allein schon in Baden-Württemberg nicht besetzt. Einzelne Kinderkliniken können deshalb eine dauerhafte Diabetesbetreuung nicht mehr gewährleisten und verweisen diese Patienten an die großen Zentren des Landes, die dadurch ihrerseits wieder überlastet werden. Auch in der psychosozialen Betreuung bestehen erhebliche Lücken: In vielen Regionen ist eine solche Unterstützung, die gerade für Heranwachsende zwingend notwendig ist, nicht verfügbar. Das Gesundheitssystem ist nicht ausreichend auf die Welle vorbereitet. Auf einen niedergelassenen Diabetologen kommen etwa 1500 Patienten.

Und wie sieht es am Tübinger Uniklinikum aus?

Im Uniklinikum Tübingen hat fast jeder vierte stationär behandelte Patient Diabetes, was eine Gesamtzahl von über 16 000 Diabetespatienten bedeutet. Deren Versorgung ruht auf den Schultern einer vergleichsweise kleinen Diabetesabteilung am Uniklinikum Tübingen. Eine gute stationäre Diabetesbehandlung ist für eine qualitativ hochwertige Versorgung auch in anderen Fachabteilungen des Klinikums wichtig, wie auch im Bericht des Magazins „Focus Gesundheit“ gefordert.

Ist die Ausbildung zum Diabetologen unattraktiv oder warum wählen so wenige Mediziner/innen diese Fachrichtung?

Mehr als die Hälfte der Diabetesspezialisten ist älter als 55 Jahre. An den 33 Medizinischen Fakultäten in Deutschland gibt es nur acht, die einen Klinischen Lehrstuhl für Diabetologie mit einer eigenen bettenführenden Abteilung haben. Auch an vielen Krankenhäusern wurden in den letzten Jahren Diabetesabteilungen geschlossen. Das limitiert die Ausbildung von Diabetologen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) setzt sich als Fachgesellschaft dafür ein, dass die Zahl der Lehrstühle und der Krankenhausabteilungen erhöht wird, um so die studentische und klinische Ausbildung zu verbessern.

Welche schnellen Verbesserungen wünschen Sie sich?

Speziell für die Kinderdiabetologie wäre eine rasche Verbesserung der personellen Ausstattung insbesondere an den Kinderkliniken dringend erforderlich, um dem vermehrten Patientenaufkommen gerecht zu werden. Dies betrifft den ärztlichen Bereich, die Diabetesberaterinnen, vor allem aber auch die psychosozialen Mitarbeiter in den Diabetesteams.

An die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen gerichtet sollten moderne Therapiekonzepte ungehindert den Patienten zugutekommen. Dies würde unmittelbar die Lebensqualität der Patienten verbessern. Auch hierfür ist in Zukunft eine gute Ausbildung der an der Therapie Beteiligten an großen Diabeteszentren wie Tübingen wichtig.

Wie lange muss man etwa auf einen Termin in der Diabetes-Sprechstunde in Tübingen warten?

In Schwerpunkt-Praxen und in der Klinik bekommen Patienten, bei denen dringender Handlungsbedarf besteht – zum Beispiel ein neu diagnostizierter Diabetes oder ein stoffwechselentgleister Diabetes, auch Patientinnen mit Schwangerschaftsdiabetes – umgehend einen Termin. An diesem wird dann die Situation der Patienten erfasst, wenn nötig, werden Sofortmaßnahmen eingeleitet und ein individuelles Vorgehen für und mit den Patienten geplant. In der Regel folgen dann nach der Akutphase regelmäßige Kontrolltermine. Zudem kann die Therapie zeitnah mit den Patienten an die aktuelle Situation angepasst werden, nicht erst wenn sie völlig „aus dem Ruder gelaufen ist“. So können Folgeerkrankungen eher vermieden oder zeitnaher erfasst und therapiert werden.

Auch welche Warnzeichen sollte man achten, wenn man noch nichts von einer Diabetes-Erkrankung weiß?

Eine rechtzeitige Erkennung des Typ 1 Diabetes kann gefährliche Stoffwechselentgleisungen (Ketoazidose, Koma) reduzieren. Weil dies eine lebensgefährliche Situation darstellt, ist es wichtig, dass alle die Frühzeichen eines Diabetes kennen und die Betroffenen im Zweifelsfall rasch einen Arzt aufsuchen. Zu den Warnzeichen zählen häufiges Trinken, vermehrtes Wasserlassen, Gewichtsabnahme und Leistungsabfall.

Bringt eine frühzeitige Diagnose bessere Lebensqualität für den Patienten oder geht es um Kostenersparnis für die Kassen?

Wichtig ist, dass die frühe Diagnose zu frühzeitigem Handeln und Behandeln der Erkrankung führt. Mit dem Patienten gemeinsam wird ein speziell für ihn und seine persönlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasster Therapieplan erstellt und kontinuierlich angepasst. Sehr viele Diabetespatienten erleiden dennoch ein diabetisches Fußsyndrom, der häufigste Grund für Amputationen in Deutschland (40 000 pro Jahr). Dies verursacht mit die höchsten Kosten und Leid bei Patienten mit Diabetes im Gesundheitssystem. Folgeerkrankungen sind auch meist der Grund zur Klinikeinweisung. Typ 2 Diabetes tut erst einmal nicht weh. Es sollte aber jedermann, ob Arzt oder Patient, klar sein, dass ein schlecht eingestellter Diabetes etwa 6 Jahre Lebenszeit kostet. Darüber hinaus sind viele Jahre durch das Leiden an Folgeerkrankungen geprägt wie Nieren-, Augen-, Herz-, Leber-, Nervenerkrankungen und viele andere Leiden, die die Lebensqualität einschränken oder zu Behinderungen werden können. Neueste Studiendaten zeigen, dass eine frühe Therapie diese Komplikationen deutlich mindern kann und ein nahezu normales Leben erlaubt.

Wo steht die Diabetes-Forschung? Wird es bald gelingen, den Diabetes zu vermeiden oder gar zu heilen?

Eine Heilung des Typ 1 Diabetes ist derzeit nicht in Sicht. Zwar haben sich die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten 10 Jahren deutlich verbessert, und viele der Patienten profitieren von den technischen Errungenschaften (Insulinpumpe, kontinuierliche Glukosemessung), dennoch bleibt die Belastung einer chronischen Erkrankung im Alltag fortbestehen und bedarf deshalb unterstützender altersgerechter therapeutischer Maßnahmen.

Sieht es bei Typ 2 anders aus?

Auch der Typ 2 Diabetes ist nicht heilbar, und die Diabetesepidemie wird weiter zunehmen. Neben den Präventionsmaßnahmen durch die Politik (Gesundheitsaufklärung, Steuer auf energiedichte und stark fett- und zuckerhaltige Lebensmittel) gilt für übergewichtige Betroffene, dass sie bei einer Gewichtsabnahme gute Chancen haben, den Diabetes in den Griff zu bekommen. Neben einer Lebensstil-Änderung helfen auch einige neue Medikamente, die immer besser die Folgeerkrankungen des Diabetes verhindern können. Um diese Medikamente gezielt einsetzen zu können, müssen die einzelnen Formen des Diabetes mit Hilfe neuer Methoden gut diagnostiziert werden. So könnte in Zukunft eine noch passgenauere, präzisere und wirksamere Diabetestherapie angeboten werden. Dies ist in Tübingen besonders gut möglich, da hier einer der fünf Gründungsstandorte des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) eingerichtet ist.

Fragen: Ulla Steuernagel

Diabetes Typ 1 und 2 sind das Thema des Expertenpodiums am Donnerstag, 22. November

Im Universitätsklinikum Tübingen hat fast jeder vierte stationär behandelte Patient Diabetes

Zum Gesundheitstag Diabetes laden das Universitätsklinikum Tübingen und das TAGBLATT am Donnerstag, 22. November, ab 19 Uhr ins Sparkassen Carré. Professoren und Ärzte des Universitätsklinikums Tübingen werden dabei in allgemeinverständlicher Form über den neuesten Stand bei der Diagnose und Behandlung der verschiedenen Formen von Diabetes berichten und sich den Fragen des Publikums stellen.

Fünf Diabetes-Experten antworten. Es sind: Prof. Baptist Gallwitz, Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik, Prof. Andreas Fritsche und Prof. Norbert Stefan, beide Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik und Deutsches Zentrum für Diabetesforschung, Prof. Andreas Neu von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und der niedergelassene Internist mit Schwerpunktpraxis für Diabetologie und Gefäßmedizin, Dr. Jan Stock. Moderiert wird das Gespräch von TAGBLATT-Redakteur Ulrich Janßen. Zwischen 18 und 19 Uhr können sich die Besucher kostenlos den Blutzuckermessen lassen. Vorweg können Fragen ans TAGBLATT unter service@tagblatt.de geschickt werden. Die Veranstaltung ist kostenlos, Anmeldung ist nicht erforderlich.

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Erstellt:
20.11.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 43sec
zuletzt aktualisiert: 20.11.2018, 01:00 Uhr

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