Den Menschen beim Leben zuschauen: Das reicht für das erste große Meisterwerk des Jahrzehnts.

Yi Yi

Den Menschen beim Leben zuschauen: Das reicht für das erste große Meisterwerk des Jahrzehnts.

24.11.2015

Von che

Yi Yi

Man braucht ein bisschen Geduld mit "Yi Yi". Die Menschen, an deren Alltag uns der taiwanesische Regisseur Edward Yang 173 Minuten lang teilhaben lässt, sind so verschroben und verschlossen, dass es gut eine Stunde dauert, bis wir sie so lieb gewonnen haben wie gute Freunde oder Nachbarn. Der Rest des Films ist dann aber das pure Vergnügen.

Wie fast alle großen Filme der letzten Jahre beschäftigt sich Yang mit der Familie im Zeitalter der Verdinglichung aller Beziehungen. Im Gegensatz zu seinen amerikanischen Kollegen Sam Mendes (American Beauty), Todd Solondz (Happiness) und Paul Thomas Anderson (Magnolia), die sich teils hämisch an ihrem Zerfall labten, lässt es Yang sanftmütig angehen: Melancholisch und mit leisem Humor beschränkt er sich weise auf die Offenbarung jener Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die das Zusammenleben der Menschen formatieren.

Im Mittelpunkt steht Familienvater NJ, ein Computerfachmann, dem aller Lebensmut abhanden gekommen ist. Seine Firma steckt in Schwierigkeiten, die Schwiegermutter liegt im Koma und die zufällige Begegnung mit einer Jugendfreundin bringt ihn auf den Gedanken, ein Leben in der falschen Umlaufbahn geführt zu haben. Um NJ herum sind weitere Schichten unspektakulärer Alltagsdramen angeordnet: Seiner Tochter verunglückt die erste Liebe, der achtjährige Sohn stellt sich vorwitzig und ungelenk den Vorboten des Erwachsenseins. Noch weiter draußen rotieren als Trabanten Nachbarn, Verwandte und Geschäftsfreunde, deren Freud und Leid für kurze aber intensive Momente spürbar wird.

Wie in einem Kaleidoskop schüttelt Yang die Ereignisse durcheinander, lässt sie zerfallen und setzt sie zu neuen Tableaus zusammen. Die einzigartige Verschränkung von lyrischer Bildgewalt und präziser Beobachtung fügt sich zu einer Tour de force durch das wahre Leben, die einen nach knapp drei Stunden erschöpft aber glücklich in die eigene Wirklichkeit entlässt.

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Erstellt:
24.11.2015, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 1min 54sec
zuletzt aktualisiert: 24.11.2015, 12:00 Uhr

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