Dornstetten · Katastrophe

Der Abend, an dem die Stadt explodierte

Die 31-jährige Sina Schweikle aus Dornstetten überlebte die Detonation von Ammoniumnitrat in Beirut unweit vom Hafen in ihrem Büro. Sie hofft auf Solidarität für ein leidendes Land.

08.08.2020

Von Annette Maria Rieger

Eine Stadt liegt in Trümmern. Innerhalb von Sekunden verloren Hunderttausende ihre Wohnung in der libanesischen Hafenstadt. So auch Sina Müller, die seit einem Jahr in Beirut lebt. Bild: Sina Schweikle

Eine Stadt liegt in Trümmern. Innerhalb von Sekunden verloren Hunderttausende ihre Wohnung in der libanesischen Hafenstadt. So auch Sina Müller, die seit einem Jahr in Beirut lebt. Bild: Sina Schweikle

Sina Schweikle hat Glück gehabt. Unfassbares Glück, so sagt sie beim Telefonat am späten Donnerstagabend.

Die freiberufliche Journalistin aus Dornstetten arbeitete am Dienstagabend gegen 18 Uhr in ihrem Büro in Beirut unweit vom Hafen vor sich hin. „Erst hörte ich so ein Surren. Ich glaube, das war die Druckwelle, die kam. Ich dachte noch: Scheiße, jetzt kommt ein Angriff. Dann tat es auch schon einen Wahnsinnsschlag und ich lag am Boden.“ Sofort, so sagt die 31-Jährige sprang ihr „Funktionier-Modus“ an: „Jetzt überleben, jetzt machen, jetzt tun!“ Denn auf einen ersten Angriff folgt immer ein zweiter, so hatten ihr libanesische Freunde erzählt. Also nur raus!

Vor dem Haus trifft sie ihre Nachbarin, die erst am Wochenende mit ihrem Mann eingezogen war. Die junge Frau zittert am ganzen Leib. Sina Schweikle nimmt sie in den Arm: „Ich kümmer mich um dich und wir schauen jetzt, dass wir das hinbekommen.“ Beide passen ab da aufeinander auf.

Blutverschmierte Menschen strömen durch die Straßen. Das Rote Kreuz ist gleich nebenan und baut auf dem Parkplatz eine Hilfsstation auf. Eine vor Schmerzen schreiende Frau liegt auf der Straße. „Da steht man da und versucht zu helfen.“

Sina hat noch Wasser in der Wohnung, das sie mit einem Mann nach unten holt. Später läuft und läuft sie. Läuft immer weiter. Durch Trümmer, schreiende, blutende Menschen, bis zum Treffpunkt mit ihrer Freundin, bei der sie übernachten kann.

Durch einen glücklichen Umstand, den sie sich im Nachhinein selbst nicht erklären kann, hatte sie an diesem Tag alles in ihrem Rucksack parat. Ihren Reisepass, die Kameras und beide Laptops. Das wichtigste für sie in diesen Tagen: ihr Handy. Gleich nach der Explosion hat sie die Familie in Dornstetten angerufen. Auch Christian Springer von der Hilfsorganisation Orienthelfer hat sie sofort kontaktiert. Vermutlich wäre sie ohne ihn nicht hier, im Libanon.

Der Nahe Osten hat Sina Schweikle schon immer fasziniert. Sie ist in Dornstetten aufgewachsen, hat in Freudenstadt ihr Abitur gemacht, Immobilienkauffrau gelernt und ist dann um die Welt gereist. Beim Studium der Kommunikationswissenschaft lernte sie Christian Springer kennen, als der an der Uni sein Projekt vorstellte: Humanitäre Projekte in einer Region, die es ihr schon immer angetan hat. Für sie ein schicksalsträchtiger Moment: „Sina, jetzt – das ist es!“

Im März 2018 flog sie zum ersten Mal nach Beirut – und hat sich gleich in die Stadt mit den Bergen im Hintergrund verliebt. Seit einem Jahr lebt sie dort, ist viel im Land unterwegs, war an der syrischen wie auch der israelischen Grenze. Schweikle gerät ins Schwärmen: „Es gibt Meer, Strände, wunderschöne Berge und Wälder. Und überall tolle Menschen.“

Wie es denen jetzt gehe? „Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nicht, wie es mir ginge, wenn ich kein Geld mehr habe, wenn ich einen Reisepass hätte, der es mir nicht erlaubt, woanders hinzugehen - außer ich finde Arbeit und selbst das wird schwierig.“

Erst Revolution, dann Explosion

Was die Libanesen jetzt brauchen? „Alles. Man hätte ja kaum glauben können, dass es dieses Land noch härter erwischen kann.. Ich war letztes Jahr hier, als die Revolution ausbrach und alle auf die Straße gingen, um zu demonstrieren. Die Wirtschaft brach zusammen. Und dann kam Corona, ganz krass, und durch die Wirtschaftskrise lag ja eh alles brach. Das Gehalt der Menschen ist nur noch 30 Prozent wert. Sie kommen nicht an ihr Geld und können es auch nicht abheben. Es ist einfach dramatisch. Neulich in einem Gesundheitszentrum habe ich erfahren: Die Medizin wird knapp. Viele Menschen können sie sich nicht mehr leisten.“

In letzter Zeit, so sagt sie, habe es viele Gerüchte gegeben. Noch am Dienstagmorgen sprach sie mit einem jungen Mann, der sich auf den Beginn eines neuen Projekts freute und sagte: „Naja, wenn bis Ende des Monats nix passiert, kein Krieg ausbricht, dann können wir anfangen.“ Und am Abend, so Sina Schweikle immer noch fassungslos und erschüttert, „explodierte die Stadt“. Ihr erster Gedanke: „Jetzt passiert es.“

Wie sie die Explosion erlebte, war in der Tagesschau, im Morgenmagazin, auf RTL, Phönix und vielen anderen Kanälen zu sehen und zu hören. Als deutsche Augenzeugin vor Ort stand sie plötzlich im Brennpunkt des Interesses. Dabei wurde ihr erst am Tag darauf klar, welcher Gefahr sie entgangen ist. „Als ich nochmal in meiner Wohnung war und sah, wie es da aussieht, hab ich am ganzen Körper nur noch gezittert.“

Mit Analysen zu den Hintergründen hält sie sich zurück. Das überlasse sie den „großen Journalisten der internationalen Presse, die jetzt von überall her einfliegen“ – und ganz in ihrem Sinn viel Aufmerksamkeit für den Libanon schaffen. „Ich will ganz klar sagen: Ich bin nicht die am meisten Betroffene. Wenn ich morgen sag, es wird mir zuviel, dann kann ich gehen. Meinen libanesischen Freunden geht es richtig schlecht. Das sind junge Menschen, die clever sind, gut drauf sind – und denen jetzt alles genommen wurde.“

Beeindruckende Solidarität

Für sie möchte sie gerne Brücken bauen, Verständnis schaffen – und sich überhaupt für mehr Sensibilität und Empathie einsetzen. Sie beeindruckt die Solidarität, die sie gerade erlebt: „Das ist Wahnsinn!“

Als sie nachts durch die Gemmayzeh Street lief, um noch ein Ladekabel aus ihrer Wohnung zu holen, wurde sie gewarnt: „Da kannst du nicht durch, die Häuser sind einsturzgefährdet.“ Sie beteuerte, ihr Anliegen sei dringend, ohne Ladekabel könne sie nicht arbeiten. Da wurde sie an der Hand genommen und begleitet. Vor dem Haus dann Kopfschütteln: „No. Not safe. We’ll bring you back“. Es sei nicht sicher, man bringe sie zurück. Auf dem Rückweg erzählten ihr die Leute, wie sie heißen, was sie gearbeitet haben. Sie fuhren sie sogar zu einer Freundin und vergewisserten sich: Hier ist Sina Schweikle in Sicherheit. Zumindest in diesem Moment.

Sina Schweikle dokumentiert mit ihrer Kamera, was ihr in Beirut begegnet: „Momentan bin ich im Funktionier-Modus.“Bild: Sina Schweikle

Sina Schweikle dokumentiert mit ihrer Kamera, was ihr in Beirut begegnet: „Momentan bin ich im Funktionier-Modus.“Bild: Sina Schweikle

Die Dornstetterin am Freitagnachmittag in Beirut. Vorläufig kommt sie bei einer Freundin unter. Privatbild

Die Dornstetterin am Freitagnachmittag in Beirut. Vorläufig kommt sie bei einer Freundin unter. Privatbild

Brücke in den Libanon

In Beirut kamen am Dienstagabend bei einer Explosion im Hafen mindestens 154 Menschen ums Leben, weitere 5000 wurden verletzt. Sina Schweikle aus Dornstetten arbeitet als freiberufliche Fotografin für Hilfsorganisationen im Libanon. Wer für die Menschen dort spenden möchte, dem empfiehlt sie den Malteser Hilfsdienst, das Deutsche Rote Kreuz und den Verein Orienthelfer (Stadtsparkasse München, IBAN DE 92 70 15 00 00 00 00 57 41 11 BIC: SSKMDEMM). Aktuelle Berichte von Sina Schweikle sind auf ihrem Blog auf Facebook zu finden: @postausnahost.

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Erstellt:
08.08.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 18sec
zuletzt aktualisiert: 08.08.2020, 01:00 Uhr

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