Kreis Freudenstadt · Pandemie

Die Kehrseite des Lockdowns

Der Bund-Länder-Gipfel entscheidet heute über eine Verschärfungen der Coronaregeln. Rückert sorgt sich um Kinder und Nicht-Corona-Kranke.

19.01.2021

Von Monika Schwarz

Landrat Klaus Michael Rückert verweist auf die Nachteile von monatelange Lockdowns. Bild: Monika Schwarz

Landrat Klaus Michael Rückert verweist auf die Nachteile von monatelange Lockdowns. Bild: Monika Schwarz

Vor der Entscheidung von Bund und Ländern, ob die derzeit geltenden Corona-Maßnahmen verlängert und/oder verschärft werden sollen, wandte sich Freudenstadts Landrat Dr. Klaus Michael Rückert am gestrigen Montag kurzfristig an die Presse. Er stellte weder die Maßnahmen noch die aktuellen Zahlen in den Mittelpunkt, sondern wollte vor allem auf „die Kehrseite der Medaille“ hinweisen.

Je länger der Lockdown dauere, desto gravierender trete diese zutage. Rückert spricht von einem „Balanceakt“ – auch was seine Stellungnahme anbelangt. „Wir greifen massiv in die Grundrechte der Menschen ein und das erfordert eine gründliche Abwägung“, sagt der Jurist. Gesundheit habe einen sehr hohen Stellenwert. Deshalb halte er es grundsätzlich für richtig, dass Bund und Länder diese einschneidenden Maßnahmen beschlossen haben. Ihm komme aber ganz klar die Gewichtung der Lockdown-Folgen für bestimmte Personengruppen zu kurz.

Dass er derzeit nicht mit seiner Frau ins Kino oder zu Konzerten gehen könne, dass Restaurantbesuche nicht möglich seien, „ist bedauerlich“, in Anbetracht der grundsätzlichen Abwägung der Gefahren aber völlig in Ordnung. „Die Rückerts überstehen das.“ Sorgen bereiteten ihm die Menschen, die die Einschränkungen nicht so schadlos überstehen. Allen voran nannte er Kinder und Jugendliche, bei denen Ängste zunehmen und jene, die von Vernachlässigung und häuslicher Gewalt betroffen sind. „Der Beratungsbedarf in unserer Familienberatungsstelle hat massiv zugenommen“, unterlegt Rückert seine Aussage mit einer messbaren Tendenz.

Vom Stress der Eltern im Homeoffice mit den Kindern zuhause wolle er jetzt gar nicht sprechen. Das Jugendamt leiste eine sehr gute Arbeit und betreue Familien auch während Corona sehr intensiv. Trotzdem bestehe die Gefahr, dass man aufgrund der geschlossenen Schulen und Kindergärten nicht mitbekomme, wenn die Situation zuhause kippt. „Wir sind halt keine Hellseher.“

Auch scheinbare Banalitäten wie der Ausfall sämtlicher Kleinkindprogramme wie Krabbelgruppen und Kinderschwimmen blieben vermutlich nicht folgenlos für Kinder und Familien, die das ja sonst gebraucht haben.

Sorge bereiten ihm zudem psychisch Kranke mit Ängsten, Depressionen oder auch Süchten. Was der Lockdown bei diesem Personenkreis anrichte, wisse man noch gar nicht. Messbare und Besorgnis erregende Zahlen hatte Rückert auch aus dem Krankenhaus dabei. Dort sind im Zeitraum von Januar bis November 2020 ein Viertel weniger Krebskranke registriert worden. Das bedeute nicht etwa, dass es weniger Erkrankungen gegeben habe – die Schwankungen liegen normalerweise nicht über 5 Prozent, betont Rückert. Für ihn ist das ein klares Indiz dafür, dass Vorsorgen und Arztbesuche, die eine solche Krankheit aufgedeckt hätten, schlichtweg unterblieben sind. Was eine zu spät erkannte Krebserkrankung bedeuten könne, wisse jeder selbst, sagt der Landrat. „Auch darüber wird bisher kaum gesprochen.“

Dasselbe gelte für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen die offiziell registrierten Krankenhauszahlen ebenfalls um zehn Prozent unter denen des Vorjahres liegen. „Und das Problem wird immer massiver, je länger dieser Lockdown dauert“, fasst Rückert das Dilemma zusammen. Obwohl das Krankenhaus immer in der Lage gewesen sei, akute Erkrankungen zu behandeln, hätten sich die Patienten aus Angst vor Corona zurückgehalten.

Rückert betont: „In die Abwägung, was man in den nächsten Wochen und Monaten tut, müssen diese Belange mit einfließen.“ Er „hoffe und wünsche sehr“, dass Bund und Länder bei allen weiteren Entscheidungen zu Corona nicht nur Virologen und Epidemiologen, sondern weitere Experten einbeziehen und dabei auch die „schwer quantifizierbaren Folgewirkungen“ beachten, also auch die „Kehrseite der Medaille“.

Die Impfungen seien deshalb so wichtig, weil sie der sicherste Weg seien, so schnell wie möglich aus diesem Dilemma wieder herauszukommen, sagt Rückert. Deshalb stehe der Kreis auch seit Tagen in den Startlöchern.

Überlegen müsse man bei der Gesamtbetrachtung auch, wie lange Kindergärten und Schulen geschlossen bleiben können. Kein Geheimnis machte Rückert daraus, dass er sich die Öffnung der Kindergärten und Grundschulen hätte vorstellen können. Es seien immer unterschiedliche Belange, die es abzuwägen gelte. Er habe deshalb auch beide Dekane – evangelisch und katholisch –
vor Weihnachten ermutigt, die Weihnachtsgottesdienste unter Coronabedingungen anzubieten. Glaube und Religionsausübung seinen ein Grundbedürfnis vieler Menschen.

Wirtschaftliche Probleme könne der Staat derzeit zumindest ein Stück weit kompensieren, die psychischen und körperlichen Folgen des immer längeren Lockdowns aber nicht, betont Rückert.

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Erstellt:
19.01.2021, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 19.01.2021, 01:00 Uhr

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