Tag des Offenen Denkmals in Tübingen

180 Interessierte erkundeten in der Olgastraße Facetten des Idyllischen

Etwa 180 Interessierte erkundeten am Sonntag die Backstein-Grandezza der Tübinger Olgastraße, deren Erbauer und Bewohner.

10.09.2018

Von Dorothee Hermann

Die baulichen Ausdrucksformen des Historismus lockten am Sonntag zahlreiche Interessierte in die Tübinger Olgastraße.Bilder: Grohe

Die baulichen Ausdrucksformen des Historismus lockten am Sonntag zahlreiche Interessierte in die Tübinger Olgastraße.Bilder: Grohe

Im Tübinger Stadtbild sind ihre bräunlich-roten Ziegelfassaden mit den spitzen Türmchen und Giebeln von weither erkennbar: die Gründerzeitvillen der Olgastraße (oberhalb der vorderen Gartenstraße). Am Tag des offenen Denkmals am Sonntag berichteten die Kunsthistorikerin und Restauratorin Julia Feldtkeller und Stadtarchivar Udo Rauch von der Baugeschichte der Häuser und von einstigen Bewohnern.

Gleich vorne im Haus Nummer 2 lebte der Theologieprofessor Adolf Schlatter, der sich nach dem frühen Tod seiner Frau Susanna eben nicht rasch wiederverheiratete und sich seiner Uni-Karriere widmete, sondern seine fünf Kinder allein großzog, sagte Rauch. Ein besonders enges Verhältnis untereinander war die Folge, besonders zu Sohn Theodor, gleichfalls Theologe, der später Tübinger Stadtpfarrer wurde.

Schlatter habe sich auch als Seelsorger seiner Studenten verstanden. Er beriet sie in allen Lebensfragen und lud zu offenen Abenden nach Hause ein. In seiner Freizeit soll Schlatter sich gern im Garten nützlich gemacht haben. Tochter Dora Schlatter betätigte sich neben ihrem sozialen und karitativen Engagement auch als Schriftstellerin. In den 1920er Jahren erschien ihr sechsteiliger Biografienband „Von edlen Frauen“, den sie unter anderen Isolde Kurz und Ottilie Wildermuth widmete. Das Buch richtete sich an „die reifere Jugend“.

Nach dem Ende der Nazizeit beteiligte sich Dora Schlatter aktiv am demokratischen Wiederaufbau Württembergs, sagte der Stadtarchivar: „Sie saß für die CDU in Bebenhausen in der Beratenden Landesversammlung von Württemberg-Hohenzollern.“ In den ersten zehn Nachkriegsjahren war Dora Schlatter zudem Tübinger CDU-Stadträtin. Eine Biografie von ihr steht noch aus, bedauerte Rauch. „Sie war bestimmt eine interessante Persönlichkeit.“

Das Anwesen Olgastraße 3 hatte ursprünglich der katholische Theologieprofessor Paul Keppler erworben. Als er 1898 zum Bischof von Rottenburg ernannt wurde, verkaufte er an die Apothekerswitwe Marie Kappis. Zu deren Mietern zählten unter anderem Dekan Paul Pressel, Landgerichtsrat Ignaz Bregenzer, Gräfin Emma zu Castell-Rüdenhausen, Theologie-Professor Otto Scheel und Kunstmaler Willy Zeltmann.

Von Mai 1950 bis zu ihrem Tod 1969 verbrachte in dem Haus die gebürtige Bochumerin Klara Spiro ihren traurigen Lebensabend, sagte Rauch. Ihren Ehemann, den Tübinger Bankbeamten und Prokuristen Hans Spiro, hatten die Nazis 1943 in Auschwitz ermordet – wie auch seine Geschwister Edwin und Elfriede. Der Vater Ludwig Spiro, Lateinprofessor am Uhland-Gymnasium, war 1941 gestorben und knapp der Deportation entgangen. Allein Klara Spiros Tochter Liselotte hatte überlebt. Sie war mit einem der letzten Kindertransporte Ende Juni 1939 nach England gelangt.

Wenige Häuser weiter lebte in der Olgastraße 7 von 1955 bis 1963 der vormalige Tübinger Oberbürgermeister Hans Gmelin. Von Januar 1941 an war Gmelin als Legationsrat an der deutschen Gesandtschaft in Pressburg (Bratislava) mitverantwortlich für die Deportation slowakischer Juden nach Auschwitz und in andere Konzentrationslager.

Von solchen politischen Verwerfungen war noch nichts zu ahnen, als das Villenquartier Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Die Tübinger Ziegeleibesitzer Clemens und Decker betrieben das exklusive Bauvorhaben und erschlossen das 177 Ar messende Areal am steilen Südhang des Österbergs durch zwei Serpentinen. Das Baumaterial lieferte deren Ziegelei im Käsenbachtal. Gewaltige Stützmauern aus Sandstein sichern das abschüssige Gelände, auf dem insgesamt acht repräsentative Backsteinvillen samt ihren mittlerweile ebenfalls denkmalgeschützten Gärten Platz gefunden haben.

Vor allem Akademiker lebten in dem idyllisch gelegenen Straßenzug. Als sich eine Studentenverbindung für das Haus Nummer 8 interessierte, bildeten besorgte und betuchte Bewohner, die Besäufnisse und Geschrei fürchteten, ein Konsortium und verkauften schließlich an den Kaufmann Christian Gunßer, Kohlehändler en gros, Vertreter der Saarbergwerke in Württemberg und Baden, Tübinger Stadtrat und Landtagsabgeordneter.

Namenspatronin war die württembergische Königin Olga, unglücklich verheiratet mit dem homosexuellen König Karl, so der Stadtarchivar. Unter seiner Regentschaft sei Württemberg unglaublich prosperiert und habe endlich Anschluss an die Industrialisierung gefunden.

Seit 1973 stehen die Villen der Olgastraße unter Denkmalschutz. Damals setzte eine neue Wertschätzung des Historismus ein, die diese Stilrichtung nicht mehr nur als imitatorischen Eklektizismus auffasste, so Feldtkeller. „Dass die Gebäude vergleichsweise intakt überlebt haben, ist sicher der Besitzerschaft zu verdanken.“

Das älteste Haus in der Tübinger Olgastraße.

Das älteste Haus in der Tübinger Olgastraße.

Zum 25. Mal Tag des offenen Denkmals

Frankreich war Vorreiter: Das Land hat 1984 den „Tag des offenen Denkmals“ eingeführt. In der Folge rief der Europarat den „European Heritage Day“ in ganz Europa aus. Die Bundesrepublik macht seit 1993 mit, unterstützt von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Der Tag des offenen Denkmals (jeweils Anfang September) führt zu denkmalgeschützten Gebäuden oder Anlagen, die sonst nicht allgemein zugänglich sind. In Tübingen ging es am Sonntag unter anderem um Hofbaumeister Heinrich Schickhardt, das astronomische Observatorium auf dem Tübinger Schloss, das Wohnheim beim Clubhaus und den keltischen Grabhügel am Ortsrand von Kilchberg. Das Motto für 2018 lautete: „Entdecken, was uns verbindet“.

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Erstellt:
10.09.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 22sec
zuletzt aktualisiert: 10.09.2018, 01:00 Uhr

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