Alltagskunde

Neuer Blick auf die Heimat

Empirische Kulturwissenschaft lautet die rätselhafte Bezeichnung eines sehr populären Faches, das in den Medien ständig präsent ist.

19.05.2021

Von HENNING PETERSHAGEN

Schundhefte! Kaum etwas kann die Abkehr von der alten Volkskunde hin zur Erforschung der modernen Alltagskultur samt ihrer Trivialliteratur besser symbolisieren als dieses Tarzan-Heft, das der noch junge Hermann Bausinger genüsslich  wenn nicht gar provokant  studiert. Foto: Manfred Grohe

Schundhefte! Kaum etwas kann die Abkehr von der alten Volkskunde hin zur Erforschung der modernen Alltagskultur samt ihrer Trivialliteratur besser symbolisieren als dieses Tarzan-Heft, das der noch junge Hermann Bausinger genüsslich wenn nicht gar provokant studiert. Foto: Manfred Grohe

Ulm. Wie funktioniert die Dramaturgie des Bierzelts? Wie hoch ist der Ausländeranteil bei der freiwilligen Feuerwehr? Welchem Bedürfnis sind die zahlreichen Aussichtstürme der Schwäbischen Alb geschuldet? Warum mutierte in den Märchen der Brüder Grimm die böse Mutter plötzlich zur bösen Stiefmutter? Gibt es einen schwäbischen Volks-Charakter?

All das sind ebenso Themen der Empirischen Kulturwissenschaft wie dörfliche Laienmediziner, die ihren Patienten die Warzen wegbeten, oder der Friseur auf der Alb, dessen Kundinnen sich die Haare kürzen lassen, sobald die Hochzeit vorüber ist. Kein Medienbericht über das Phänomen „Heimat“, in dem nicht Hermann Bausinger zu Wort kommt, der die „Empirische Kulturwissenschaft“ – kurz EKW – erfunden hat. Keine fünfte Jahreszeit ohne die Expertisen des „Fastnachtspapstes“ Werner Mezger, der am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft seinen Doktor über den Deutschen Schlager erworben hat. Der Kabarettist Uli Keuler gab dort seine Dissertation über das Komiker-Paar Häberle und Pfleiderer ab.

Und wenn es um die schwäbische Mundart geht, sind die letzten Instanzen ebenfalls am Ludwig-Uhland-Institut zu suchen. Es ist also das volle Menschenleben, aus dem die EKWler/innen schöpfen; vor allem die -innen, denn die Frauen sind dort mittlerweile in der Mehrzahl. Aber was bedeutet „Empirische Kulturwissenschaft“? Früher hieß dieses Fach „Volkskunde“.

Von Nazis übel missbraucht

Doch das ist seit genau 50 Jahren nicht mehr der Fall: Am 19. Mai 1971 genehmigte das baden-württembergische Kultusministerium die Umbenennung. Damit war die Neuorientierung der von den Nationalsozialisten übel missbrauchten Volkskunde auch sprachlich zementiert und ein Veränderungsprozess abgeschlossen, der freilich schon viel früher eingesetzt hatte. Das Institut war gleich zu Beginn der NS-Herrschaft gegründet worden, als die Volkskunde, bis dahin bei der Germanistik angesiedelt, selbstständiger Lehrstuhl wurde. Sie genoss einen hohen Stellenwert, da sie die Deutschtums-und Rassen-Ideologie wissenschaftlich untermauern sollte, wobei Tübingen eine Vorreiter-Rolle spielte.

Damit war 1945 Schluss, und im April 1948 benannte sich das Institut in „Ludwig-Uhland-Institut für deutsche Altertumswissenschaft, Volkskunde und Mundartforschung“ um – mit Billigung der französischen Besatzer und der Sage nach auf Vorschlag des SPD-Politikers Carlo Schmid. Der schwäbische Dichter Ludwig Uhland stand auch bei den Franzosen in hohem Ansehen. Das änderte freilich nichts daran, dass die Volkskunde nach wie vor ihrer alten Tradition folgte, die sich um Sitte und Brauch, Haus und Hof, Volkslieder und Volkspoesie kümmerte.

Die Neuorientierung weg von der einstigen Blut- und Bodenkunde hin zur heutigen Alltagskultur vollzog Hermann Bausinger 1959 mit seiner Habilitationsschrift „Volkskultur in der technischen Welt“. Sie gilt international als Durchbruch der modernen Volkskunde, deren Tübinger Lehrstuhl, 1960 neu geschaffen, damals Bausinger anvertraut wurde. Er behielt ihn bis 1992. Sein 1964 gehaltener Vortrag „Volksideologie und Volksforschung“, eine Analyse der braunen Vergangenheit seines Faches, zog die Dissertation von Wolfgang Emmerich über die germanistische Volkstumsideologie nach sich. Veröffentlicht im Revolten-Jahr 1968, trug sie in hohem Maße zur Problematisierung des Begriffes „Volk“ bei und damit auch der „Volkskunde“: Dieser Begriff hing nach wie vor am Ludwig-Uhland-Institut (LUI).

Trivialliteratur und Popmusik

Die Rufe nach einer Namensänderung wurden daher lauter, obwohl das, was dort betrieben wurde, längst eine völlig neue Volkskunde war, die sich auch mit Trivialliteratur, vulgo „Schundheftchen“, und populärer Musik auseinandersetzte. Wenn sie dennoch traditionelle Themen aufgriff wie etwa Bausinger den Adventskranz, dann um nachzuweisen, dass diese vermeintlich uralte Tradition noch relativ jung ist.

Ihm ist dann auch der neue Name zu verdanken, auf den sich das Institut geeinigt hat – gegen Vorschläge wie „marxistische Volkskunde“ oder „Subkulturforschung“. „Kultur“ lag auf der Hand, da alles, was am Institut erforscht wurde und wird, Ausformungen der menschlichen Kultur sind. Da aber „Kulturwissenschaft“ bereits von der „Hochkultur“ besetzt war, und da die vom Institut betriebene Forschung im unmittelbaren Kontakt zu den Gewährsleuten erfolgt, also empirisch, folgte daraus die „empirische Kulturwissenschaft“ und der Wechsel von der philosophischen Fakultät zu der für Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Dabei ist es bis heute geblieben. Andere Universitäten sind dem Beispiel gefolgt und haben ihre Volkskunde in „Europäische Ethnologie“, „Vergleichende Kulturwissenschaft“, „Kulturanthropologie“ oder sonstwie umbenannt. Die „Empirische Kulturwissenschaft“ war lange ein Alleinstellungsmerkmal der Tübinger. Doch mittlerweile haben auch die Institute in München, Hamburg und Zürich diesen Namen übernommen.

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Erstellt:
19.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 19.05.2021, 06:00 Uhr

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