Nordstetten · Justiz

Wenig Fortschritt, viel Taktik

Im Fall des getöteten Nordstetters Michael Riecher wurde gestern am Rottweiler Landgericht wieder gegen zwei Männer verhandelt.

04.09.2019

Von Manuel Fuchs

Landgericht Rottweil Bild: Manuel Fuchs

Landgericht Rottweil Bild: Manuel Fuchs

Als erster von drei Zeugen trat am gestrigen Verhandlungstag ein 61-jähriger Kriminalbeamter in in den Zeugenstand. Er hatte als Mitglied der Sonderkommission den ersten Angeklagten mehrmals vernommen – zunächst als Zeugen, später als Beschuldigten.
Der Beamte bezeichnete die Vernehmungen als „nicht einfach“: Sie habe oft unterbrochen werden müssen, und die Aussagen seien von Zeitsprüngen durchzogen
gewesen.

Unter anderem habe der erste Angeklagte ausgesagt, für Michael Riecher 4000 Euro bekommen zu haben, um anonym Goldmünzen zu kaufen. Dieser Kauf sei jedoch wegen des hohen Goldpreises auf Riechers Wunsch nicht zustande gekommen. Über den Verbleib des Geldes war nichts zu erfahren.

Ferner soll Michael Riecher nach Darstellung des ersten Angeklagten am Samstag, 3. November 2018, „Leute aus Berlin“ erwartet haben, die sich von ihm, Riecher, Geld leihen wollten. Über die näheren Umstände dieses Besuchs habe der erste Angeklagte keine Angaben machen können, so der Beamte im Zeugenstand.

Der erste Angeklagte soll ferner ausgesagt haben, er habe zur mutmaßlichen Tatzeit –  Freitag, 2. November 2018, etwa 18 Uhr – einen Bekannten in Michael Riechers Nachbarschaft besuchen wollen. Der sei jedoch nicht erreichbar gewesen. Danach habe er seine ehemalige Deutschlehrerin im selben Viertel aufsuchen wollen. Die habe, wie er bei einem Blick durchs Fenster gesehen haben will, geschlafen, sodass er auf den Besuch verzichtet habe.

Vom Zeugen zum Beschuldigten

Am 9. November 2018 sei der erste Angeklagte zunächst wieder – im Beisein eines Anwalts, der eigentlich Michael Riecher in immobilienrechtlichen Fragen beraten habe – als Zeuge vernommen worden. Während dieser Vernehmung, so sagte der Beamte, sei er fernmündlich informiert worden, dass neue Erkenntnisse einen Tatverdacht gegen diesen Mann begründeten und er als Beschuldiger zu vernehmen sei. Die Zeugenvernehmung sei darauf umgehend abgebrochen, der erste Angeklagte über seine neue Rolle und die Implikationen gemäß Strafprozessordnung belehrt worden.

In der anschließenden Beschuldigtenvernehmung soll der erste Angeklagte eine weitere Version zu Prokotoll gegeben haben, was er am Abend des 2. November zur angenommenen Tatzeit erlebt habe. Demnach habe er Michael Riechers Wohnung dunkel, aber mit offener Balkontür wahrgenommen. Er sei zur Balkontür gegangen, um nach seinem Freund zu sehen. Dabei habe ihn ein Mann von hinten gepackt und ihm bedeutet, nicht zu schreien. Ein weiterer Mann, ebenfalls maskiert, sei in der Wohnung gewesen. Der erste Angeklagte sei in die Wohnung geführt worden, dort habe er ein Hemd in die Hand gedrückt bekommen, das er mitnehmen solle. Er habe dieses jedoch in den Flur geworfen und sei aus der Wohnung geleitet worden. Beide Männer sollen etwa 1,80 Meter groß und von normaler Statur gewesen sein. Angeblich haben sie Deutsch ohne erkennbaren Akzent gesprochen – so gab der Beamte im Zeugenstand die Aussagen des ersten Angeklagten in der Beschuldigtenvernehmung wieder.

Der Kriminalbeamte sagte, er habe noch in der Vernehmung diese Schilderung als unglaubwürdig bezeichnet. Der erste Angeklagte habe jedoch keine Berichtigung formuliert und sei danach zu keiner Aussage mehr bereit gewesen.

Grundprobleme der Justiz

Die Verteidiger des ersten Angeklagten suchten, wie schon mehrfach an zurückliegenden Verhandlungstagen, in den Zeugenaussagen nach Hinweisen dafür, dass ihr Mandant zu spät als Beschuldiger geführt und belehrt worden sei. Warum sei beispielsweise – wie der Zeuge ausgesagt hatte – der Arbeitsplatz des ersten Angeklagten bei einer Vernehmung untersucht worden, obwohl dieser zu dem Zeitpunkt als Zeuge galt?

Die Polizei sei verpflichtet, be- und entlastende Spuren zusammenzutragen, sagte der Beamte im Zeugenstand, und wies damit auf ein Grundproblem der Polizeiarbeit hin. Ein Sprecher der Polizeidirektion Tuttlingen hatte es der SÜDWEST PRESSE bereits während der Ermittlungen in diesem Fall geschildert: Bevor eine Spur gefunden sei, wisse man weder, wie sie aussehe, noch, wo sie zu finden sei. Daher sei eine umfassende Sichtung notwendig.

Ein weiteres Grundproblem trat zutage, als die Anwälte der Verteidigung den Zeugen befragten: Prozessbeteiligte – also unter anderem Anwälte der Angeklagten – können über die Gerichtsakten während der Verhandlung Einsicht in die Vernehmungsprotokolle nehmen. Zeugen hingegen sind grundsätzlich auf Ihr Gedächtnis angewiesen. Dass man mit Blick in die Akten relativ leicht Details zu Vernehmungsprotokollen erfragen kann, die dem Zeugen nicht mehr im Gedächtnis sind, nutzten die Verteidiger mehrmals, um den Beamten ins Straucheln zu bringen. Erkenntnisse zur Sache ergaben sich dabei nicht – aber dies ist auch keine Aufgabe der Verteidigung.

Der Beamte sagte aus, er belehre jeden Zeugen, den er vernehme, nach Paragraf 55 der Strafprozessordnung über dessen Auskunftsverweigerungsrecht. Das nahmen die Verteidiger auf und legten dar, diese Belehrung sei in mehreren Vernehmungsprotokollen nicht dokumentiert. Ob hierfür die Formulierung „Sie brauchen sich nicht selbst zu belasten“, die der Richter dem Beamten suggestiv in den Mund legte, der Strafprozessordnung überhaupt genüge, wurde hinterfragt, aber nicht geklärt.

Eine sogenannte Qualifizierte Belehrung des Beschuldigten mit dem Ziel, die Aussagen aus dessen Zeugenvernehmungen verwerten zu dürfen, hat nach Angaben des Beamten am 11. November ohne Anwesenheit eines Anwalts oder Dolmetschers stattgefunden.

Widerspruch erneuert

Als der Beamte nach vier Stunden aus dem Zeugenstand entlassen worden war, gipfelte die Strategie der Verteidigung in einer Erklärung: Bereits in der Verhandlung am 2. Mai hatten die Anwälte des ersten Angeklagten der Verwertung dessen Aussagen widersprochen, weil er als Zeuge vernommen wurde, obwohl schon längst ein Tatverdacht gegen ihn bestanden habe. Dies zeigten die Untersuchungen seinen Arbeitsplatzes, seines Autos, seines Handys, die Erhebung seiner DNA sowie das Sicherstellen des Fingernagelschmutzes. Ferner seien Fragen nach einem Alibi zur Tatzeit keine Fragen, die die Polizei üblicherweise einem Zeugen stelle. Der bei der Vernehmung anwesende Anwalt stehe in einem Interessenkonflikt, wenn er einen gegen den Vorwurf vertreten solle, einen anderen Mandanten des Anwalts getötet zu haben. Der als Zeuge geladene Beamte wisse zudem offenkundig nicht, was eine Qualifizierte Belehrung ist. Daher seien alle seine Aussagen für das Gericht unverwertbar.

Zwei weitere Zeuginnen

Die zweite Zeugin des Tages, eine 26-jährige Kriminalkommissarin, wurde vor allem zu den von ihr angefertigen Lichtbildmappen befragt. Deren Inhalte brachten jedoch wenig Erkenntnisgewinn. Die Zeugin hatte außerdem Chatprotokolle und Sprachnachrichten des Mannes ausgewertet, der die beiden Angeklagten miteinander bekannt gemacht haben soll. Demnach habe dieser auf einer gemeinsamen Autofahrt mit den beiden Angeklagten gehört, dass sie Michael Riecher bestehlen wollten. Der erste Angeklagte soll dabei gesagt haben, er werde die Beute in der Wohnung seiner Schwiegermutter deponieren.

Unmittelbar danach sei der Zeuge aus dem Auto ausgestiegen. Er wollte nichts mehr mit den Plänen zu tun haben. Die beiden Angeklagten hätten ihm dennoch einen Anteil an der Beute zugesichert, den er jedoch auf keinen Fall annehmen wollte, so die Ausführungen der Kriminalbeamten zu den analysierten Chatprotokollen und Sprachnachrichten.

Die dritte Zeugin hatte den Mann vernommen, der gemeinsam mit dem ersten Angeklagten Michael Riechers Leiche aufgefunden haben soll. Er habe den ersten Angeklagten an jenem Morgen gefragt, wie Riecher zu Tode gekommen sei, was der Angeklagte mit einer Würgegriff-artigen Geste beantwortet haben soll. Diese sollte jedoch, so arbeitete das Gericht gründlich heraus, lediglich darauf hindeuten, dass der erste Angeklagte den Toten am Hals berührt und seinen Puls gesucht habe. Sie sei keineswegs als Hinweis auf die Tatausübung und damit möglicherweise gar als ein Geständnis zu verstehen.

Zum Artikel

Erstellt:
04.09.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 44sec
zuletzt aktualisiert: 04.09.2019, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!