Nordstetten/Rottweil · Justiz

Zeugenvernehmung zerfasert zusehends

Die Verhandlung am Landgericht Rottweil um die Ermordung Michael Riechers bescherte gestern vor allem den Anwälten der Verteidigung eine überraschende Erkenntnis.

22.10.2019

Von Manuel Fuchs

Ähnlich unwegsam wie die Zufahrt zum Landgericht Rottweil waren die gestrigen Zeugenvernehmungen dort im Prozess um die Ermordung des Nordstetters Michael Riecher. Bild: Manuel Fuchs

Ähnlich unwegsam wie die Zufahrt zum Landgericht Rottweil waren die gestrigen Zeugenvernehmungen dort im Prozess um die Ermordung des Nordstetters Michael Riecher. Bild: Manuel Fuchs

Als erster Zeuge war gestern zum wiederholten Mal jener Mann geladen, der am Morgen des 3. November 2018 zusammen mit dem ersten Angeklagten Michael Riechers Leiche in dessen Nordstetter Wohnung aufgefunden hatte. Oberstaatsanwalt Dr. Christoph Kalkschmid, Rechtsanwalt Rüdiger Kaulmann als ein Vertreter der Nebenklage sowie die Anwälte der beiden Angeklagten bemühten sich ihrer jeweiligen Strategie gemäß, Unstimmigkeiten aus vorangegangenen Vernehmungen durch geschicktes Nachfragen zu glätten oder aufzuzeigen.

Warum vom Handy des Zeugen Telefonate mit einem Anschluss geführt wurden, der dem Tatopfer Michael Riecher zuzuordnen sei, fragte Rechtsanwalt Alexander Hamburg. Der Zeuge hatte nämlich angegeben, Michael Riecher nur flüchtig gekannt zu haben. Sicher habe der erste Angeklagte mit Michael Riecher telefoniert, antwortete dieser: „Es kam ziemlich oft vor, dass er mein Handy benutzt hat.“ Er sei gelegentlich auch auf dieser Nummer zurückgerufen worden, was die Gegenanrufe von Michael Riechers Anschluss erkläre. Das alles lasse sich leicht nachvollziehen, da er alle Telefonate mit einer speziellen Software aufnehme und sie der Kammer gern zur Verfügung stelle, erklärte er lakonisch.

Überrascht und sprachlos

Die Anwälte der beiden Angeklagten zeigten konsternierte Mienen und rangen kurzzeitig um Worte. Der Vorsitzende Richter Karlheinz Münzer wunderte sich darüber: Der Zeuge habe genau dies, dass nämlich alle Anrufe, ein- wie abgehende, aufgezeichnet würden, bereits am 27. Mai in der Hauptverhandlung ausgesagt. Er führe damit eine Gewohnheit aus seinem Heimatland Syrien fort, ergänzte Oberstaatsanwalt Kalkschmid. Insbesondere wisse der erste Angeklagte seit 27. Mai davon. Eine Frist für etwaige Strafanträge auf Basis des Paragrafen 201 im Strafgesetzbuch („Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes“) hab mit dessen Kenntnisnahme begonnen. „Es kommt auf die Kenntnis des Opfers an, nicht auf die seiner Anwälte“, so Kalkschmid wörtlich.

Die Anwälte des ersten Angeklagten nutzten die Mittagspause zur Rücksprache mit ihrem Mandanten. Rechtsanwalt Dr. Alexander Kubik erklärte danach, er und seine Verteidigerkollegen haben zum ersten Mal wahrgenommen, dass sowohl eingehende als auch ausgehende Gespräche aufgezeichnet wurden. Er beantragte daher, das Handy des Zeugen unverzüglich zu beschlagnahmen sowie die Vernehmung auszusetzen oder zu unterbrechen. Zur schriftlichen Ausarbeitung dieses Antrags beantragte er zudem eine Unterbrechung der Verhandlung.

Rechtsanwalt Kaulmann wandte ein, zur Beschlagnahme bestehe kein Anlass, da der Zeuge das Gerät sowie alle Passcodes freiwillig zur Verfügung stellen wolle.

Weil sich Rechtsanwalt Hamburg nicht mit der ablehnenden Verfügung des Richters zufrieden gab, wurde die Ablehnung nach kurzer Beratung der Kammer durch einen Gerichtsbeschluss bestätigt. Richter Münzer gab dabei außerdem bekannt, das Mobiltelefon sei sichergestellt. Dessen gesamter Datenbestand stehe den Verfahrenbeteiligten auf einer CD in den Gerichtsakten seit geraumer Zeit zur Verfügung.

Zum Abschluss dieser in juristische Meta-Fragen zerfaserten Vernehmung beantragte Rechtsanwalt Hamburg, den Zeugen noch nicht zu entlassen, da die Inhalte der aufgezeichneten Gespräche der Verteidigung nicht bekannt seien. Richter Münzer entgegnete beinahe barsch: „Seit dem 27. Mai haben wir nicht gehört, dass diese Gespräche für Sie wichtig wären.“ Die Kammer wies den Antrag zurück; Richter Münzer sicherte allerdings zu, den Zeugen neu zu laden, sollten sich neue Fragen aus Erkenntnissen zu den besagten Gesprächen ergeben.

Der erste Angeklagte soll versucht haben, einen Arbeitskollegen als Komplizen für ein Eigentumsdelikt zum Schaden Michael Riechers zu gewinnen. Der Kollege habe das Ansinnen jedoch abgelehnt; seine Frau war gestern ebenfalls als Zeugin geladen. Von diesen Plänen des ersten Angeklagten habe ihr Mann ihr erst erzählt, nachdem Michael Riechers Tod öffentlich bekannt geworden war. „Wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich ihn“ – gemeint: den ersten Angeklagten – „lebend aufgefressen; ich hätte es getan!“ übersetzte die Dolmetscherin eine Redewendung der Zeugin aus dem Italienischen. Sie habe den ersten Angeklagten am 3. November 2018 – dem Tag, an dem Michael Riechers Leiche entdeckt worden war – nach 11.37 Uhr vor einem Imbiss in der Horber Unterstadt gesehen habe. Die Uhrzeit ließ sich über den Kassenbon eines Schuhgeschäfts im Horber Bahnhofsareal eingrenzen: Dort habe sie eingekauft und sei dann mit ihrem Mann nach Nagold gefahren. Auf der Fahrt habe sie den ersten Angeklagten in Begleitung zweier Männer vom Auto aus gesehen.

Grabungen ohne Zusammenhang

Zuletzt war eine Kommissarin der Kriminalpolizei Rottweil als Zeugin geladen, die als Sachbearbeiterin mit dem Komplex „Grabungen“ betraut war. Gemeint sind hiermit die Ereignisse vom 4. Januar 2019, als eine Gruppe Männer im Komposthaufen hinter dem Wohnhaus des ersten Angeklagten möglicherweise nach Beute gegraben haben. Mit den Informationen aus beschlagnahmten Mobiltelefonen zeichnete die Beamte die Verabredung zur Grabung und den Kontakt der Gruppe in die Justizvollzugsanstalt Rottweil nach, wo der erste Angeklagte inhaftiert war. Allerdings lassen die Textnachrichten, die an den Tagen nach dem 4. Januar zwischen den Handys verschickt wurden, vermuten, dass die erhoffte Beute nicht oder zumindest nicht vollständig gefunden wurde.

Einen Zusammenhang zwischen den Grabungen und dem Mord an Michael Riecher habe man nicht gesehen, sagte die Beamte. Ob Erkenntnisse an das Landgericht Hechingen weitergeleitet wurden, wo gegen einen der Männer ein Prozess anhängig ist, wusste sie nicht.

Rechtsanwalt Hamburg vertritt einen Mandanten im Hechinger Prozess, Richter Münzer hatte ihn daher zu einer Erklärung aufgefordert. Auch Hamburg verneinte einen Zusammenhang; es handele sich um verschiedene prozessurale Vorgänge. Richter Münzer bestätigte: „Das kann man in einer vorläufigen Bewertung so sehen“; die anderen Verfahrensbeteiligten widersprachen dem nicht.

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Erstellt:
22.10.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 45sec
zuletzt aktualisiert: 22.10.2019, 01:00 Uhr

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