Freudenstadt · Nachhaltige Mobilität

Die Verkehrswende auf der Überholspur

Der umweltbelastende Verkehr in klimagefährdeten Zeiten – wie lässt sich Mobilität nachhaltig ausrichten? Eine anregende, gelehrige Runde diskutierte im Kurtheater.

22.02.2020

Von Siegfried Schmidt

Diskussionsrunde im Freudenstädter Kurtheater mit Verkehrsminister Winfried Hermann, Carsharing-Pionier Matthias-Martin Lübke, VCD-Landesvorsitzendem Matthias Lieb und dem Physiker Udo Lambrecht vom ifeu-Institut (von links). Außen links und rechts die beiden Moderatoren Jakob Mast und Yantin Fleischhauer. Für das Veranstalter-Team von „Education For Future“ und das Referenten-Podium gab es am Ende stehenden Publikumsapplaus. Und der Minister meinte: „Eine großartige Veranstaltung. Mehr davon!“ Bild: Siegfried Schmidt

Diskussionsrunde im Freudenstädter Kurtheater mit Verkehrsminister Winfried Hermann, Carsharing-Pionier Matthias-Martin Lübke, VCD-Landesvorsitzendem Matthias Lieb und dem Physiker Udo Lambrecht vom ifeu-Institut (von links). Außen links und rechts die beiden Moderatoren Jakob Mast und Yantin Fleischhauer. Für das Veranstalter-Team von „Education For Future“ und das Referenten-Podium gab es am Ende stehenden Publikumsapplaus. Und der Minister meinte: „Eine großartige Veranstaltung. Mehr davon!“ Bild: Siegfried Schmidt

Eingeladen hatte zu der Podiumsdiskussion der junge, seit erst einem Jahr gegründete Initiativkreis „Education For Future“, ein Ableger der Fridays for Future-Bewegung in Freudenstadt. Die jungen Leute mit dem blauen „Aufgeschlagenes Buch“-Siegel wollen über Klima- und Umweltbelastungen aufklären und durch Bildungsforen den gesellschaftlichen Wandel forcieren – hin zu einem vernünftigen Umgang mit den begrenzten Ressourcen der Menschheit.

Und die Besucher im gut gefüllten Zuschauer-Parkett des Freudenstädter Kurtheaters durften staunen, welch illustrer, politisch wie wissenschaftlich reflektierter Diskutantenkreis dem Ansinnen der jungen Klimaaktivisten da gefolgt war. Im Halbkreis auf der Bühne saßen der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann, der Diplom-Physiker und Verkehrsbelastungsforscher Udo Lambrecht (Institut für Energie- und Umweltforschung, Heidelberg), der Carsharing-Pionier Martin Lübke und der Vorsitzende des VCD Baden-Württemberg, Matthias Lieb.

Die Auswahl der Referenten, aber auch die Anmoderation durch Jakob Mast und Yantin Fleischhauer machten deutlich: Eine allzu kontroverse Debatte etwa über ein Festhalten an konventionellen Verkehrsmodellen versus einer Neuausrichtung stand hier nicht auf der Tagesordnung. Das hätte wohl auch das Zeitbudget dieses Abends unnütz verschleudert. Denn längst ist den meisten bewusst, dass umweltgerechte Mobilität und ein Hinsteuern darauf die zentralen Herausforderungen dieser Erdklimaepoche sind. Zielförderlicher ist es da, Wegmarken zu setzen und einen Wissensdialog anzustacheln, als sich in alten Freund-Feind-Scharmützeln aufzureiben.

Bahn und Fernbus liegen vorn

Vorangestellt war dem Wissensaustausch deshalb ein umfangreiches Grundlagen-Kapitel, das wesentliche Fragen abhandelte: Wie steht es um die globale Klimaerwärmung, wann erreicht der Notstand weltweit den gefährlichen Kipppunkt, an dem sich die
Prozesse gegenseitig aufschaukeln, wie klimarelevant sind die Emissionen des Verkehrssektors? Und was sind eigentlich die subjektiven Erwartungen an Mobilität vor diesem eher düsteren Hintergrund?

Der Diplom-Physiker Lambrecht zerlegt Mobilität in ihre wesentlichen Kategorien – Effektivität, Verkehrsmittelwahl, Energie und Fahrverhalten – und zeichnet daraus Treibhausgas-Bilanzkurven. Keine Überraschung: Bahn und Fernlinienbusse liegen weit vorn in der „Eco“-Bilanz. Aber Lambrecht geht noch tiefer und weist die Klimabilanz des Pkw aus – und zwar von „seiner Geburt“ bis zur Verschrottung. Alle Zyklen sorgen für Klimabelastung: Materialvorkette, Herstellung, Nutzung und schließlich die Entsorgung. Die Frage, ob E-Autos besser sind als Verbrenner-Fahrzeuge (Benzin, Diesel), ist längst ausgestanden. Sind Batterie-Kutschen noch besser zu konstruieren, das ist aktuell viel interessanter. Und wie können alternative Antriebe fossile Kraftstoffe ersetzen und gleichzeitig emissions-neutral sein?

Udo Lambrecht demonstrierte anhand von Folien-Diagrammen, dass synthetischer Kraftstoff und Brennstoffzelle in der Prozessbetrachtung (Herstellung) noch unter Ineffizienz-Vorbehalt stehen und batterieelektrisches Fahren dagegen einen weiten Vorsprung genießt.

Nur, damit allein ist die Klima-Verkehrswende nicht zu schaffen! Martin Lübke hat das Carsharing, also die ressourcenschonende Versorgung von Haushalten mit einer kleinen Individualfahrzeugflotte, zu einem Begleitkonzept modernen Städtebaus, etwa in Freiburg, gemacht. Und dabei viel Erfahrungen gesammelt. Was leistet solch ein Autovermeidungskonzept, können in einem Dorf damit zumindest alle Zweitwagen ersetzt werden? Lübke kalkuliert nüchtern: Carsharing ermögliche nur „Restmobilität“, es verlange eine massive Änderung des Autonutzungsverhaltens beim Einzelnen, es entlaste aber nicht davon, „dass wir jetzt massiver umdenken müssen“.

Liebes-Verhältnis zum Auto

Carsharer Lübke erkennt zumal in Deutschland ein noch vielfach verbreitetes „libidinöses Verhältnis“ zum eigenen Auto, das die Kostenwahrheit zu umgehen weiß. So bleibe das als umständlich bezichtigte Carsharing ein „Methadon-Mittel für die Autofahrer“. Es sei immerhin schon was „in Bewegung gekommen“, nun müsse aber noch viel mehr angeschoben werden.

Verkehrsminister Winfried Hermann („Das Auto ist halt verdammt einfach und praktisch, auch wenn es zu teuer ist“) forderte in Freudenstadt mit klaren, plausiblen Worten die „Mobilitätswende“ – weg von der „großen Tasche“ Privatauto, wo 80 Kilogramm Lebendgewicht von bis zu zwei Tonnen Fahrgerät befördert werden, und hin zur effizienten und rationellen Nutzung verschiedener Transportmittel.

500 „Mobilitäts-Hubs“ (zu deutsch Drehscheiben) im Land könnten den kollektiven Transporttechniken auf die Sprünge helfen. Voraussetzung: Ein sicherer und verlässlicher Bahn-
Bus-Verkehr, der Ausbau des gesamten Spektrums mobiler Dienstleistungen.

VCD-Vertreter Matthias Lieb kritisierte die Vernachlässigung des ÖPNV, der nach „Zumutbarkeit“ strukturiert sei, aber damit noch weit entfernt von einem attraktiven Angebot liege. Die Verkehrsumfrage im Kreis Freudenstadt habe ein schwaches ÖPNV-Wochenendangebot aus Nutzer-Sicht ermittelt. Und die Ticketpreise erschienen im Vergleich mit den variablen Kosten des
Autos (Tankinhalt) und ohne dessen „versunkene Kosten“ (Anschaffung, Abnutzung) als immer zu teuer.

Soll man deshalb den ÖPNV kostenfrei machen? Dem schworen die Podiumsgäste ab. Winfried Hermann: „Kostenlos ist nicht wirklich ökologisch.“ Auch Zugsysteme belasteten die Umwelt. Statt Busfahren gratis zu stellen müssten jetzt der Ausbau und die Sanierung der Infrastruktur vorangetrieben werden. Denn der ÖPNV stoße aktuell „sehr schnell an seine Grenzen“. Mit dem CO2-Preis sei zumindest
ein Anfang gemacht, dass das
„Auto seinen Umweltpreis zahlen muss“.

Autofahren: kein Menschenrecht

Thema Eigenverantwortung: Die eigene, persönliche Mobilitätsentscheidung kristallisierte sich in der 2,5-stündigen Abendveranstaltung als wichtiger Baustein der Verkehrswende heraus. Der Verkehrsminister - sicher kein plumper Autogegner: „Es gibt kein Menschenrecht, Auto zu fahren oder gar 200 Stundenkilometer schnell zu fahren“. Er forderte aber auch Beiträge von Kommunal- und Bundespolitik für sichere Wege und aufenthaltsfreundliche Plätze und Zonen. Die Politik, welche die klimafreundliche
Mobilität freilich auch „sozialverträglich“ zu gestalten habe, braucht Tempo beim Wandel. Hermann: „Wir müssen deutlich schneller werden, sonst werden wir verlieren.“

Am Ende blieb eine gemischt optimistische Gegenwartsbeschreibung. Physiker Lambrecht urteilte, die politischen Prozesse seien zu lahm, zu träge – und Autos zu komfortabel -, um die Wende, die Kurve zu kriegen. Sein Appell in den Saal: „Nicht auf die Politik warten!“ Und Martin Lübke rügte Stadt- und Raumplanungen „für die Vergangenheit, statt für die Zukunft“. Brücken- und Tunnelprojekte gelte es zu
stoppen („wir werden das alles nicht mehr brauchen“), die Gelder sollten für den Umstieg und für autofreie Urbanität verwendet werden.

Nach einer längeren Publikums-Fragerunde endete der Abend ressourceneffizient und überaus sympathisch im Kurhaus-Foyer an einem Buffet „aus geretteten Lebensmitteln“. Die Freudenstädter Foodsharing-Gruppe servierte „Überproduziertes“ aus Backläden und Lebensmittelmärkten – auch eine pädagogisch lehrreiche wie sinnvolle Klimaaktion gegen Verschwendung, Vernichtung und den Wegwerf-Ungeist.

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Erstellt:
22.02.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 02sec
zuletzt aktualisiert: 22.02.2020, 01:00 Uhr

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