Nordstetten/Rottweil

Die einen sprechen Recht, die anderen wollen Gerechtigkeit

Zu den Urteilen im Riecher-Prozess, die die 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil am Dienstag fällte.

09.01.2020

Von Manuel Fuchs

Die einen sprechen Recht, die anderen wollen Gerechtigkeit

Sie haben es vermutlich schon online oder in der Zeitung gelesen: Die beiden Männer, die wegen Mordes an Michael Riecher aus Nordstetten angeklagt waren, wurden am Dienstag zu sechs beziehungsweise viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen räuberischer Erpressung verurteilt – nicht wegen Mordes, nicht wegen Totschlags, nicht wegen einer Todesfolge ihrer Handlungen.

Michael Riecher wurde getötet, daran ließ die 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil keinen Zweifel. Also muss es wenigstens einen Täter geben – auch das bestreitet niemand. Die Kammer stand vor der Aufgabe, anhand objektiver Ermittlungsergebnisse sowie der Aussagen von Zeugen und Sachverständigen zu klären, welcher der beiden Männer Michael Riecher tötete – oder ob sie gar beide im strengen Sinn schuld an seinem Tod sind.

Dies ist der Kammer nicht gelungen, deshalb konnte sie keinen der beiden Männer als Mörder oder Totschläger verurteilen. Beide waren an kriminellen Handlungen beteiligt, in deren Verlauf Michael Riecher erwürgt wurde. Wohlgemerkt: Die Kammer attestierte keinem, unschuldig zu sein – weil sie dann den jeweils anderen hätte verurteilen müssen.

Für Angehörige und Freunde Michael Riechers ist das im äußersten Maß unbefriedigend, macht traurig oder zornig, vermutlich beides. Womöglich hätte es dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden eher entsprochen, beide Angeklagten zu lebenslanger Haft zu verurteilen. Damit wäre der Täter angemessen bestraft. Sein Komplize würde nach dem volkstümlichen Dreiklang „Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen“ zur Rechenschaft gezogen – vielleicht über Gebühr, aber das Gesamtbild sähe wohl gerechter aus als das jetzige Urteil.

Aufgabe einer Strafkammer ist, Recht zu sprechen – und ausdrücklich nicht, ein Gerechtigkeitsempfinden zu bedienen oder jemandem Genugtuung zu verschaffen. Zur Rechtsprechung gehört, im Zweifel für den Angeklagten zu urteilen. Das Urteil und die Höhe der Strafen haben nichts mit der Herkunft der Angeklagten – aus Syrien und Palästina – zu tun; dafür lege ich nach den vielen Prozesstagen, die ich in Rottweil verfolgt habe, meine Hand ins Feuer. Wer anderes behauptet, irrt sich oder lügt.

Was ist mit angeblich lückenhaften Ermittlungen? Hätte eine bessere Arbeit der Behörden den Täter überführt? Die Frage ist hypothetisch, ich vermute: nein. Wären DNA-Spuren von Michael Riechers engem Freund im Haus gefunden worden, hätte man diese leicht auf die häufigen Besuche zurückführen können. DNA-Spuren seines Komplizen wurden gefunden – doch selbst die genügten nicht für Verurteilung.

Es bleibt viel Unerfreuliches: ein getöteter Bruder, Onkel, Schwager, Freund und Mitmensch, dazu – gemessen am Tatvorwuf – zwei aus Mangel an Beweisen in einem Indizienprozess mild verurteilte Angeklagte. Gegen das Urteil ist keine Berufung möglich; den Prozessbeteiligten steht nur die Revision zum Bundesgerichtshof offen.

Der Vorsitzende Richter Karlheinz Münzer erkannte die Lücke zwischen der objektiven Rechtsprechung und subjektiv empfundenener Ungerechtigkeit, als er am Dienstag mit Blick auf den Täter vom „Stachel seines Lebens“ sprach, den die ungesühnte Tat hinterlasse.

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Erstellt:
09.01.2020, 21:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 26sec
zuletzt aktualisiert: 09.01.2020, 21:00 Uhr

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