Nordstetten · Justiz

„Zwischen 19.48 Uhr und 23.42 Uhr“

Der Vortrag des Gerichtsmediziners, der Michael Riechers Leiche obduziert hatte, eröffnete eine rege Diskussion um Tatszenarien und die Genauigkeit des rekonstruierten Todeszeitpunkts.

05.09.2019

Von Manuel Fuchs

Mögliche Temperaturkurve eines Leichnams.Quelle: www.swisswuff.ch/calculators/todeszeitsnpy.php

Mögliche Temperaturkurve eines Leichnams. Quelle: www.swisswuff.ch/calculators/todeszeitsnpy.php

Einige Zeugen waren im Prozess gegen die zwei Männer, die den Nordstetter Michael Riecher im vergangenen November getötet haben sollen, am Vormittag gehört worden. Den Nachmittag bestritt der Gerichtsmediziner Prof. Dr. Frank Wehner, der vor allem die Befunde der Obduktion von Michael Riechers Leiche vortrug.

Todesursache Sauerstoffmangel

Als Todesursache konstatierte Wehner Sauerstoffmangel, der bei einem Angriff gegen den Hals entstanden sei. Hierfür sprachen die punktförmigen Erstickungsblutungen im Augenbereich. Solche könnten zwar beispielsweise auch bei Presswehen oder Kopftieflage entstehen, führte Wehner aus, seien aber durchaus typisch für einen Erstickungstod.

Beide oberen Kehlkopfhörner der obduzierten Leiche waren abgebrochen und deutlich umblutet. Letzters zeige an, dass die Fraktur zu Lebenzeiten des Tatopfers geschehen sein müsse, und zwar recht kurz vor dessen Ableben, sagte der Gerichtsmediziner. Dies belege einen Angriff gegen den Hals. Als Zeitspanne, die notwendig sei, um einen Menschen zu erwürgen, nannte Wehner vier bis acht Minuten. Das gemeinsame Auftreten Symptomen für Sauerstoffmangel und Frakturen der Kehlkopfhörner bezeichnete er als „zwei Befunde, die eng miteinander vergesellschaftet sind.“

Es sei von einer „manuellen Kompression“, also einem Erwürgen mit bloßen Händen oder einem Unterarmwürgegriff auszugehen, jedenfalls von einem flächenhaften Angriff, führte der Mediziner weiter aus. Strangulationsmarken, wie sie beim Erhängen oder Erdrosseln auftreten, seien nicht zu sehen gewesen.

Allerdings seien an Michael Riecher eine Vielzahl von Zeichen der Einwirkung stumpfer Gewalt erkennbar gewesen, außerdem kleinflächige Blutergüsse am rechten Arm, die der Mediziner als typische Griffspuren charakterisierte. Diese seien ebenfalls kurz vor dem Ableben Riechers verursacht worden.

Eine etwa zwei Zentimeter lange strichförmige Verletzung am Oberkopf könne, so erläuterte Wehner auf Rückfrage, beispielsweise von einem schweren Aktenordner verursacht worden sein, der mit der Kante auf Michael Riechers Kopf gefallen sei.

Tatablauf nicht rekonstruierbar

Eine Nebenklägerin, eine Schwester des Tatopfers, fragte nach dem tatsächlichen Tatablauf. Hierzu äußerte Wehner sein Bedauern: Er habe kein spezifisches Szenario ausgearbeitet, so etwas sei ohnehin pure Spekulation. Er könne den Tatablauf nicht rekonstruieren, sondern bestenfalls bestimmte Szenarien mit seinen Erkenntnissen in Einklang bringen oder ihnen eben widersprechen.

Zu den möglichen Szenarien gehöre ein Erwürgen im Unterarmgriff, wobei der Angreifer hinter dem Kopf des Opfers gestanden oder gekniet habe. Diese Version brachte der Vorsitzende Richter Karlheinz Münzer ins Gespräch.

Der Todeszeitpunkt

Die Ermittlung des Todeszeitpunkts sei nach der Henßge-Methode geschehen. Diese errechnet aus der Körpertemperatur der Leiche, der Umgebungstemperatur, ihrem Gewicht und weiteren Parametern eine Abkühl-Kurve und ermittelt daraus den Todeszeitpunkt – wenn nämlich die Körpertemperatur etwa bei 37 Grad Celsius gelegen habe.

Der Erfinder dieser Methode selbst habe eingeräumt, dass sie in einem guten Szenario mit einem Fehlerkorridor von 2,8 Stunden auskommen müsse, der durch weitere Faktoren wie Leichenstarre oder Totenflecken einzuengen sei, erläuterte der Gerichtsmediziner. Mit den Temperaturmessungen, die Beamte des Kriminaldauerdienstes am 3. November 2018 gegen 15.45 Uhr vorgenommen hatten, einem geschätzten Gewicht sowie der Information, die Leiche sei nur mit einer Unterhose bekleidet gewesen, errechnete dieses Verfahren für den Zeitpunkt von Michael Riechers Tod die Spanne zwischen 19.48 Uhr und 23.42 Uhr am Freitag, 2. November 2018.

In der anschließenden Debatte trat zutage, dass die Leiche ursprünglich mit einer Jeans bekleidet gewesen sei. Dies war auf einem Foto des Rettungsdienstes eindeutig zu sehen. Erst die Ärztin, die am 3. November gegen 12.30 Uhr eine erste Leichenschau vorgenommen hatte, habe dem Leichnam diese Hose ausgezogen. Mit der neuen Information, so erklärte Gerichtsmediziner Wehner, müsse er die Spanne für den Zeitpunkt von Michael Riechers Tod nach vorn verschieben. Denn eine bekleidete Leiche kühle langsamer aus; die Zeit, bis die Körpertemperatur auf die am Leichnam gemessene Temperatur gefallen sei, werden länger. Eine neue Berechnung werde er am 11. September präsentieren, wenn die Kammer ihn wieder hören will.

Rechnung verlangt präzise Daten

Das Henßge-Verfahren ist also durchaus anfällig für Fehler und daher auf eine besonders präzise Erfassung der Rahmendaten angewiesen. Wie sehr sich beispielsweise ein Unterschied von fünf Kilogramm Körpergewicht oder einem Grad Raumtemperatur sich auf die Berechnung auswirkt, kann man online unter www.swisswuff.ch/calculators/todeszeit.php nachvollziehen: Im vorliegenden Szenario ergibt sich allein daraus eine Verschiebung des errechneten Todeszeitpunkts von über einer Stunde.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Rechtsanwalt Alexander Hamburg, ein Verteidiger des ersten Angeklagten, auch gestern wieder bei einem der Zeugen, die am Morgen vernommen worden waren, nachfragte, ob das vom Kriminaldauerdienst verwendete Thermometer geeicht sei. Schließlich könnten schon geringe Fehler bei den Temperaturmessungen große Abweichungen im Ergebnis nach sich ziehen. Die Antwort auf diese Frage blieb gestern allerdings offen.

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Erstellt:
05.09.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 20sec
zuletzt aktualisiert: 05.09.2019, 01:00 Uhr

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