Zivile Grundlagenforschung an Künstlicher Intelligenz

Cyber-Valley-Initiative in Tübingen weist Vorwürfe der Militarisierung und des Ausverkaufs zurück

Über die Ansiedlungen auf der Oberen Viehweide in Tübingen und die regionale Cyber-Valley-Initiative zur Künstlichen Intelligenz kursieren in Tübingen viele Gerüchte. Am 6. Juli hatte beispielsweise ein Bündnis Aktiver aus der Friedensbewegung, der Informationsstelle Militarisierung, der Linken und dem Friedensplenum auf einer Kundgebung in Tübingen den „Ausverkauf der Stadt“, das Entstehen einer „Kontrollgesellschaft“ durch Künstliche Intelligenz (KI) und die Militarisierung beklagt.

18.07.2018

Von Gernot Stegert

Der Roboter Apollo ist der Star des MPI für Intelligente Systeme. Bei der Eröffnung des Neubaus vor einem Jahr hielt er das rote Band, das Ministerpräsident Winfried Kretschmann durchschnitt. Bild: Metz

Der Roboter Apollo ist der Star des MPI für Intelligente Systeme. Bei der Eröffnung des Neubaus vor einem Jahr hielt er das rote Band, das Ministerpräsident Winfried Kretschmann durchschnitt. Bild: Metz

„Ich glaube, dass das Cyber Valley die Stadt und Region in einen Rüstungsstandort verwandeln wird“, hatte Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung gesagt. Auch forderten die Demonstranten: „Amazon muss weg“. Das TAGBLATT hat bei den Cyber-Valley-Verantwortlichen – Cyber-Valley-Koordinatorin Tamara Almeyda und Forschungskoordinator Matthias Tröndle – nachgefragt.

Was ist das Cyber Valley?

Cyber Valley ist eine Forschungskooperation (siehe Info-Box) von derzeit elf Partnern: die Max-Planck-Gesellschaft, die Universitäten Stuttgart und Tübingen, das Land Baden-Württemberg sowie die Unternehmen Amazon, BMW AG, Daimler AG, IAV GmbH, Porsche AG, Robert Bosch GmbH und ZF Friedrichshafen AG. Cyber Valley sei nicht das Technologiezentrum Tübingen-Reutlingen (TTR) oder einzelne Firmen. „Viele Entwicklungen werden oft auf das Cyber Valley projiziert“, kritisiert Almeyda und fordert zur Differenzierung auf. Tröndle macht den Unterschied am Beispiel klar: Amazon sei zwar Teil der Initiative und sei durch das attraktive Umfeld angelockt, aber die Entscheidung fälle das Unternehmen unabhängig. So wie Facebook die Initiative verlassen habe.

Was macht Tübingen so attraktiv?

„Tübingen hat sich zu dem wichtigsten Standort für maschinelles Lernen in Deutschland entwickelt“, sagt Tröndle. Zum Beleg zeigt er ein Ranking von Vorträgen auf Topkonferenzen. Demnach steht Tübingen weltweit auf Platz 6, gleich nach den amerikanischen Carnegie Mellon, Berkeley, Stanford, MIT und Princeton. 44 Prozent aller deutschen Beiträge kommen aus Tübingen. Wie groß die Strahlkraft von Tübingen ist, würden auch die Bewerbungen auf die ausgeschriebenen Stellen zeigen: Es seien jeweils Hunderte aus aller Welt, so Almeyda.

Tamara Almeyda. Bild: MPI

Tamara Almeyda. Bild: MPI

Woher kommt der Verdacht, dass hier etwas geheim gehalten würde?

Almeyda führt dies auf eine Fehlinterpretation einer Aussage von Max-Planck-Präsident Martin Stratmann zurück. Dieser sagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass ein großes Institut in Tübingen seit 10 Jahren aufgebaut wird. Diese Aussage bezieht sich aber auf das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. Nicht auf die Cyber-Valley-Initiative, wie es teilweise interpretiert wurde. Das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme gibt es seit 2011 und die Cyber-Valley-Initiative wurde mit der Unterzeichnung eines „letter of intent“, einer Absichtserklärung, am 16. Dezember 2016 öffentlich gemacht. Da sei also nichts geheim gehalten worden, sondern sogar in einem frühen Stadium, informiert worden, betont Almeyda.

Warum ist Facebook beim Cyber Valley ausgestiegen?

„Den Grund kenne ich auch nicht, das war eine unternehmerische Entscheidung von Facebook“, sagt Tröndle. Andere Standorte hätten offenbar besser zu den Zielen gepasst.

Können noch Partner beim Cyber Valley einsteigen?

Ja, sagt Almeyda, „die Cyber-Valley-Initiative ist kein exklusives Format, sondern ist offen“. Voraussetzung sei allerdings, dass Grundlagenforschung betrieben wird, so Tröndle.

Fördert der Verbund von Forschungsinstituten und Privatunternehmen die Kommerzialisierung von Wissenschaft?

In der Cyber-Valley-Initiative geht es um freie Grundlagenforschung, „nicht um Produkt- oder Auftragsforschung“, betont Almeyda. „Wir sind nicht die verlängerte Entwicklungsabteilung.“ Ziel ist es jedoch, Forschungsergebnisse auch in die Praxis umzusetzen.

Matthias Tröndle. Bild: MPI

Matthias Tröndle. Bild: MPI

Können Privatunternehmen Forschungsergebnisse kostenlos nutzen, die mit Steuergeldern bezahlt worden sind?

Nein, sagt Tröndle: „Es ist ein Grundsatz der Max-Planck-Gesellschaft, dass die Ergebnisse der Max-Planck-Gesellschaft gehören. Das gilt auch für die Cyber-Valley-Kooperation.“ Patente, die aus der Forschung entstehen, gehören der Max-Planck-Gesellschaft, so der Forschungskoordinator, und müssen zu „marktüblichen Bedingungen“ lizensiert werden. Das gelte auch bei Drittmittelprojekten. Bei sehr enger Zusammenarbeit würde im Detail geschaut, wer welchen „schöpferischen Beitrag“ geleistet habe.

Doch würde ohnehin nur ein kleiner Teil in Patente münden, erläutert Almeyda, das meiste bleibe Grundlagenforschung, die in Aufsätzen veröffentlicht werde: „Unsere Währung und unser Auftrag sind Publikationen.“ Das gelte auch für Drittmittelprojekte. So könne es sein, sagt Tröndle, dass ein Unternehmen eine Forschung mitbezahle, aber die Konkurrenz über die Veröffentlichung davon profitiere.

Lässt sich die KI-Forschung in Tübingen für militärische Zwecke missbrauchen?

„Wir haben keinerlei Projekte, die in diese Richtung gehen“, legt sich Tröndle fest. Und auch Almeyda ist deutlich: „Wir machen keine militärische Forschung.“ Im Gegenteil: „Viele Wissenschaftler engagieren sich dagegen.“

Die Linke-Fraktion im Tübinger Gemeinderat fordert eine Zivilklausel. Was halten die Forscher davon?

Für Tröndle ist die Klausel gut gemeint, birgt aber praktische und rechtliche Probleme bei der Auslegung, wie sich bei der Universität Tübingen zeige: Was zähle dazu, was nicht? Grundlagenforschung könne sich theoretisch immer missbrauchen lassen. Aber der Forschungskoordinator versichert: „Momentan sind alle Forschungen so grundlegend, dass sie weit weg sind von irgendeinem Missbrauch.“ Es komme ohnehin auf das von den Forschern Gelebte an, eine Zivilklausel verkomme leicht zum Feigenblatt.

Künstliche Intelligenz schafft Lösungen, aber auch andere ethische Probleme. Werden sie bedacht?

„Wir sind hier nicht im Elfenbeinturm“, sagt Almeyda. Ob autonomes Fahren oder Pflege durch Roboter – die Forscher beschäftigen sich viel mit ethischen Fragen der KI, erklärt Tröndle. Sie seien in entsprechenden Gremien engagiert. Das sei auch ein wichtiges Argument dafür, die KI-Forschung in Europa, in Deutschland zu betreiben. Hier würden Werte und Transparenz eingehalten. Die Entwicklung sollte nicht den Amerikanern und Chinesen überlassen werden. Und Almeyda ergänzt: „Die Entwicklung der KI kommt, die Frage ist: Können wir sie formen?“

Am 14. September wird es daher in Tübingen eine Tagung zum Thema Ethik und KI geben. Und für Aufklärung über das MPI und die Cyber-Valley-Initiative soll am 15. September ein Tag der offenen Tür sorgen.

Protest gegen das Cyber Valley
© ST 03:31 min
Auf dem Tübinger Holzmarkt protestierten rund 30 Demonstranten gegen das Cyber Valley und für eine öffentliche Diskussion.

Was das Cyber Valley ist

Das Cyber Valley ist eine der größten Forschungskooperationen Europas aus Wissenschaft und Wirtschaft auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Gefördert durch das Land Baden-Württemberg entstehen neue Forschungsgruppen sowie Universitätslehrstühle in Tübingen und Stuttgart auf den Gebieten Maschinelles Lernen, Robotik und Computer Vision. Auch eine neue Doktorandenschule, die International Max Planck Research School for Intelligent Systems, ist angeschlossen. Die zehn Forschungsgruppen unter dem Cyber-Valley-Dach verteilen sich mit fünf Gruppen zum größten Teil auf das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI-IS) mit seinen beiden Standorten Stuttgart und Tübingen. Drei weitere Forschungsgruppen sind an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und zwei an der Universität Stuttgart angesiedelt.

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Erstellt:
18.07.2018, 23:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 59sec
zuletzt aktualisiert: 18.07.2018, 23:00 Uhr

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